Was sagen uns die Inschriften, die im Jahre 1975 in Kuntillet Adschrud, einem Ruinenhügel im nördlichen Sinai, gefunden wurden, über das Verhältnis von JHWH und Aschera? Aus Texten der im Nordwesten Syriens gelegenen Hafenstadt Ugarit aus dem 14. Jahrhundert vor Christus ist uns bekannt, dass dem Gott El die Göttin Aschera und dem Gott Baal die Göttin Anat zur Seite standen. Dass JHWH in einer frühen Phase seiner Geschichte mit dem Gott El identifiziert wurde, ist in der Wissenschaft weitgehend anerkannt. Der Name „Isra-el“ erinnert noch von Ferne daran. Hat JHWH im Prozess der Identifikation mit El auch die Gemahlin dieses Gottes als die seinige mit übernommen, wenn es in einer der Inschriften von Kuntillet Adschrud heißt: „Ich segne euch von/bei JHWH von Samaria und von/bei seiner Aschera“? Diese Frage wird in der Wissenschaft sehr kontrovers diskutiert. Dabei schälen sich zwei Positionen heraus.
Die eine sieht in Aschera eine eigenständige Göttin neben JHWH und findet in der Inschrift einen Beleg dafür, dass in der frühen und mittleren Königszeit (9. bis 7. Jahrhundert) neben JHWH eine weitere Göttin verehrt wurde und die JHWH-Religion in dieser Zeit im Grunde polytheistisch war. Eine andere Deutung versteht Aschera in der Inschrift als ein Kultsymbol, durch das JHWH seinen Segen spendet. Für diese Deutung spricht ein Bild, das sich auf dem Krug mit der Inschrift findet. Es zeigt einen stilisierten Baum mit Lotusblüten, an denen aufgerichtete Ziegen fressen. Der Baum steht auf einem schreitenden Löwen als Trägertier und dürfte Aschera symbolisieren. In der Inschrift ist eindeutig JHWH derjenige, von dem der Segen erbeten wird. Aschera ist die Mittlerin seines Segens.
Die Frage wird diskutiert, inwieweit in diesem Kultsymbol, durch das JHWH segnet, die Göttin Aschera durchscheint. Hier gehen einige Deutungen mehr in die Richtung einer personalisierten Göttin, andere mehr in die Richtung eines Kultobjekts. Als eigenständig handelnde Göttin neben JHWH jedenfalls ist sie auf der Inschrift nicht zu verstehen. Auch wenn sie als Göttin verstanden wird, so ist sie JHWH doch untergeordnet.
Die Inschrift hat in der Forschung erneut die Frage nach einer Göttinnenverehrung im vorexilischen Israel aufgeworfen. Eine Reihe von alttestamentlichen Texten weist darauf hin, dass dies tatsächlich der Fall war. Eine Aschera stand im Heiligtum von Samaria (1 Kön 16,33; 2 Kön 13,6), in Bet-El (2 Kön 23,15) und sogar im Tempel zu Jerusalem. König Manasse (696–642 vor Christus) hatte sie dort aufstellen lassen (2 Kön 21,7). Aschera hatte also ihre Verehrerinnen und Verehrer in Israel und Juda (vgl. 1 Kön 15,13). Klar ist aber auch, dass sie sich innerhalb der JHWH-Religion auf Dauer nicht halten konnte. Im Rahmen einer groß angelegten Kultreform ließ König Joschija im Jahr 622 vor Christus die Kultstatue der Aschera aus dem Jerusalemer Tempel entfernen und im Kidrontal verbrennen (2 Kön 23,6). Zur gleichen Zeit verbietet das deuteronomische Gesetz ausdrücklich: „Du sollst neben dem Altar des HERRN, deines Gottes, den du dir baust, keine Aschera, keinerlei Holz einpflanzen“ (Dtn 16,21). Die deuteronomistischen Geschichtsschreiber sahen im Abfall zu anderen Göttern den Grund für den Untergang des Nordreiches: „Sie liefen nichtigen Göttern nach und wurden selbst zunichte … Sie übertraten alle Gebote des HERRN, ihres Gottes, schufen sich Gussbilder, zwei Kälber, stellten einen Kultpfahl (Aschera) auf, beteten das ganze Heer des Himmels an und dienten dem Baal“ (2 Kön 17,16).
Aus Sicht feministischer Theologie wird die Frage gestellt, ob mit der Verdrängung weiblicher Gottheiten aus dem religiösen Symbolsystem Israels nicht zugleich eine Verdrängung weiblicher Lebenswirklichkeiten einherging, die dazu geführt hat, dass die biblisch bezeugte Religion zu einer vor allem von Männern beherrschten Religion wurde. Ist das der Preis des Monotheismus?
Ludger Schwienhorst-Schönberger