Vom Christentum ist in Europa am ehesten dann die Rede, wenn das Ende der Volkskirche konstatiert wird. Deprimierende Szenarien über Glaubensschwund und Niedergang werden entworfen. Es wirkt, als gehe eine lange und ehemals wichtige Geschichte ihrem Ende zu.
In der Tat sind viele Nachrichten aus den Kirchen besorgniserregend, ärgerlich und manchmal skandalös. Grund zur Sorge bereitet zudem die Angst vor der Zukunft in kirchlichen Kreisen und die Fixierung auf die Tradition.
Das Vertrauen in die Zukunft des Christentums scheint in den Kirchen selbst manchmal weniger ausgeprägt zu sein als außerhalb. Aber resigniert können eigentlich nur jene sein, die finden, dass im Christentum alles gesagt und entdeckt ist, dass es nichts Neues geben wird und geben kann. Das ist der sicherste Weg in den Niedergang der Tradition.
Statt Resignation braucht es im Christentum und in den Kirchen Europas heute Geistesgegenwart. Dazu gehört ein Gespür für das, was noch unentdeckt im Christentum steckt oder wiederentdeckt werden kann. Es bedarf der Sorge um die Suchenden und auch einer Neugier auf die Zeichen von Gottes Gegenwart in der Zukunft.
Darum geht es: geistesgegenwärtig zu sein als Anspruch des Christentums, neue Perspektiven zu entdecken und dem Christentum eine große Zukunft zuzutrauen – in aller Bescheidenheit und mit einer neuen Liebe zu den Peripherien der Welt und des Glaubens.
Die ungewöhnlichen Erfahrungen, die Menschen derzeit machen, weil ein Virus die Welt in Atem hält und ihr Leben davon – wie auch immer – betroffen ist, sind ein Weckruf, den die Christenheit nicht überhören darf.
Die Zeit der Pandemie deckt vieles auf, das sich nun nicht mehr leugnen lässt. Sie provoziert Veränderungen schneller, als wir dachten. Es ist ebenso vorstellbar, dass im Christentum in Europa eine neue Bescheidenheit zu neuen Perspektiven führen wird.
Aus: Annette Schavan, „geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums“
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