Wenn Schwester Anna Schenck bei den Maria-Ward-Schwestern eins gelernt hat, dann das: Pläne sind dafür da, um durchkreuzt zu werden. Sie erinnert sich noch gut an die letzten Monate ihrer Ausbildung für das Ordensleben. Im Herbst 2019 reiste Schwester Anna in den Libanon, sollte Kinder aus dem gebeutelten Nachbarland Syrien unterrichten. Dann kam der 17. Oktober, der Tag, an dem sich im Libanon die geballte Wut der Bürger gegen ihre Regierung, gegen korrupte Eliten und Misswirtschaft entlud. Anna Schenck war da gerade eine Woche im Land und wusste von da an nicht mehr, ob sie am nächsten Tag in die Schule gehen konnte. Straßenblockaden zwangen sie dazu, im Ordenshaus zu bleiben. „Ich habe jeden Morgen aufs Handy geguckt und mich gefragt: Welche Eskalation gibt es heute?"
Ein paar Monate später kam Corona. „Für mich war dann klar, dass ich nach Deutschland zurück muss, sonst wäre ich wohl über Monate im Libanon hängen geblieben“, erzählt die Ordensschwester. Das Gerücht ging schon um, dass der Flughafen von Beirut bald schließen würde. Also flog Anna Schenck mit einem der letzten Flieger heim – direkt in den ersten Corona-Lockdown. Statt in eine spirituelle Phase am Ende der Ordensausbildung ging Schwester Anna nun zur Frankfurter Bahnhofsmission. Gerade zu Beginn der Pandemie standen nämlich viele Obdachlose hilfloser da als je zuvor. Unterkünfte waren dicht und Lockdown-Schutzmaßnahmen kamen für sie nicht in Frage.
„Zwischendurch hab ich mich gefragt, ob Corona meine Vorbereitungen auf die ewige Profess nun ganz kaputt macht“, erzählt die 43-Jährige, die vor ihrem Ordenseintritt unter anderen bei der Unternehmensberatung McKinsey arbeitete. Aber Schenck ist Ordensfrau geworden, um ihre „Gaben zur Verfügung zu stellen“, wie sie es nennt. Also saß sie in der heißen Phase des ersten Lockdowns in der S-Bahn rund um Frankfurt, kümmerte sich um Bedürftige. Hatte sie Angst, sich zu infizieren? „Nein. Wenn das so gekommen wäre, wäre das so gekommen. Ich hatte nur Sorge, meine älteren Mitschwestern anzustecken.“
Wie hat Schwester Anna, die mittlerweile ihre ewige Profess abgelegt hat und nun Amtschefin des Augsburger Bischofs Bertram Meier ist, in der ganzen Zeit eigentlich die Nerven behalten? Liegt es vielleicht daran, dass sie ihrem Leben eine so klare Richtung gegeben hat, dass sie die Wechselfälle des Alltags mit Gleichmut hinnehmen kann? „Es hilft mir, dass ich mein Leben Gott versprochen habe“, sagt sie. Sie vertraut auf das Gebet und, ja, auch auf die Entscheidungen der Oberen über sie – getragen von der Unterscheidung der Geister, einer geistlichen Abwägung in der Spiritualität des heiligen Ignatius von Loyola (1491–1556). In Schencks Orden, der offiziell Congregatio Jesu heißt, sagen sie: „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit.“
Schwester Anna kennt deshalb keine Angst vor der Zukunft und keine Furcht vor einer Corona-Infektion. Wie sie haben in den letzten Monaten viele Ordenschristen ihre traditionelle Lebensweise, ihren Glauben, ihren Gehorsam als sicheren Anker in dieser stürmischen Zeit wertschätzen gelernt.
So auch Johannes Tebbe. Der Benediktiner lebt im nördlichsten Kloster Deutschlands, in Nütschau auf halbem Weg zwischen Hamburg und Lübeck. Wie geht es ihm nach einem Jahr Corona-Pandemie in Deutschland? „Unsere Mönchsgemeinschaft ist sehr gut durch die letzten Monate gekommen“, sagt er. „Mir ist richtig bewusst geworden, wie dankbar ich sein kann, mit 17 Mitbrüdern zu leben – im Unterschied zu so vielen Menschen, die ganz allein sind.“ Der Konvent, den Bruder Johannes als Prior leitet, gilt in der Pandemie als ein Haushalt, eine Familie. Das heißt unter anderem, dass die Mönche keine Abstände einhalten müssen. Sie richten ihre Tage nach der Regel des heiligen Benedikt von Nursia aus, dem großen Mönchsvater aus dem sechsten Jahrhundert. Ob draußen ein Virus grassiert oder nicht, wirkt sich auf ihr routiniertes Klosterleben kaum aus. „Unsere Struktur gibt Halt“, sagt Bruder Johannes. Er hat sich vor 20 Jahren für den Konvent in Nütschau entschieden, als er auf dem Weg war, Priester einer Pfarrgemeinde zu werden. Die Benediktiner von Nütschau starten morgens um 6.30 Uhr mit der Vigil, einem langen Morgengebet, es gibt Lesungen, Psalmen und Gesänge.
Das ganze Mönchsleben ist geprägt durch Gebetszeiten, Mahlzeiten – teils im Schweigen – Ruhephasen, Lesen, Arbeit. „Wir sind eigentlich dauernd beschäftigt, haben immer die Gemeinschaft im Blick“, erklärt Johannes Tebbe. Man könne im Kloster gar nicht um sich selbst kreisen und mental nur bei sich bleiben. Klosterleben als Leben im Flow. Die anderen halten einen auf Trab, meint der Ordensmann. „Klar, manchmal kommt einer morgens zur Vigil nicht hoch und schläft aus. Das ist kein Weltuntergang. Wenn man dann später dazukommt, etwa beim Frühstück, hat man aber durchaus schon mal das Gefühl, irgendwie nicht in den Tag reinzukommen. Die Gemeinschaft fordert eben auch.“ Was dem Benediktiner fehlt, sind die sonst so vielen Gäste des Klosters, gerade die Jugendgruppen. So gut es geht, hält er den Draht nach außen jetzt online.
Und was ist mit der Hauptaufgabe der Ordensleute, dem Gebet? Was macht das mit einem, wenn man sich Tag für Tag mit anderen mal ganz im Privaten, mal im feierlichen Ritus in Gott versenkt – und das Virus trotzdem bleibt, ja tödlich bleibt und durch die Mutationen sogar noch tödlicher wird? Johannes Tebbe überlegt. Er überlegt lange. „Gott ist kein Wunscherfüller“, sagt er dann. Beten mache stark, die Situation auszuhalten – wie sie ist. Warum? „Weil ich mein kleines zerbrechliches Leben, meine kleine zerbrechliche Umwelt in einen größeren Horizont stelle. Gott, der Licht, Liebe und Gemeinschaft ist.“ Wenn Tebbe sich ins klösterliche Chorgebet versenkt, bittet er um Kraft, die Realität auszuhalten.
Ähnlich klingt es, wenn Pater Max Cappabianca über den Glauben in Corona-Zeiten spricht. Der Dominikaner ist Hochschulseelsorger in Berlin, gerade hält er den Kontakt zu seinen Studenten rein digital – doch nicht weniger tiefsinnig. „Der Glaube tröstet, aber er ist keine Vertröstung“, erklärt Cappabianca. „Vertröstung wäre die irrige Hoffnung, dass das Gebet die Wirklichkeit auf unser Kommando ändern muss.“ Doch Glaube sei, daran festzuhalten, dass hinter allem Übel ein guter Gott steht, der einen nicht im Stich lässt. „Aus meiner Sicht geht es für Christen darum, einen positiven Blick auf das Leben zu haben, ohne unkritisch zu werden.“ Beten könne also helfen, den seelischen Stress, die Unwägbarkeiten dieser Tage zu ertragen – nicht loszuwerden.
Klar: Wir können nicht alle zu Mönchen und Nonnen werden. Viele können auch gar nicht so leben wie sie, selbst wenn sie wollten. Was ist mit der alleinerziehenden Mutter, die gerade ihre drei Kinder zu Hause beschäftigt, beim Homeschooling hilft und nebenher Geld verdienen muss? Was ist mit dem arbeitslosen Single, dem gerade mehrmals am Tag die Decke auf den Kopf fällt? Klar ist auch, dass etwa der Gehorsam anfällig für Missbrauch ist. Gerade läuft in der Kirche eine Diskussion über den „geistlichen Missbrauch“, eine Form der Manipulation, getarnt als spirituelle Lebenshilfe. Welche Formen das annehmen kann, ist zum Beispiel bei Doris Reisinger zu lesen („Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau“, Verlag Knaur).
Vielleicht hilft es, sich klarzumachen, dass Ordensleute keine Übermenschen oder irgendwie bessere Christen sein wollen. In Gesprächen hört man das oft heraus. Sie versuchen einfach so zu leben, wie sie sich von Gott berufen fühlen – und dabei haben sie uns einiges zu sagen. Eine mutige Lebensentscheidung, Achtsamkeit mit den Nächsten, eine gewisse Unterordnung unter die Nöte einer Gemeinschaft, ein geregelter Tagesablauf, eine geerdete Spiritualität: Das könnte ein Weg zur Resilienz sein, dieser Widerstandskraft in Krisen, dieser inneren Festigkeit. Und es kann helfen, sich darauf zu konzentrieren, worauf man sich freut, wenn die Pandemie überstanden ist. Schwester Anna Schenck aus Augsburg weiß das schon ganz genau: „Ich warte darauf, einige meiner Mitschwestern ganz fest in den Arm nehmen zu können, ohne dabei über Viren nachzudenken. Und ich will unbedingt wieder ins Schwimmbad.“