Ich muss gestehen, ich war zunächst skeptisch. Robert Habeck gilt als einer, der sich ungern festlegt, der immer irgendwie herumeiert. Aber ich bin eines Besseren belehrt worden: Habeck hat in „Von hier an anders“ etwas zu sagen. Er entwickelt nicht nur eine überzeugende Analyse von Problemen der ökonomischen, sozial-kulturellen und politischen Ordnung, sondern liefert auch eine Vision eines neuen Miteinanders. Darin haut man sich die Wahrheit nicht um die Ohren – der Autor nennt das „Draufrumhämmern“ –, sondern man geht mit eigenen Überzeugungen ins Gespräch und entwickelt in einer offenen Haltung gemeinsame Lösungen. Habeck ist dabei selbstkritisch, stellt auch das Verhalten seiner Partei in Frage.
„Politische Liebe“ – ganz praktisch
Der Autor beschreibt zuerst eine zunehmende Polarisierung – etwa im Blick auf die Klimakrise – und ein wachsendes Misstrauen in die Demokratie. Er erklärt das Problem mit dem Bild des Paternoster-Aufzugs: Dem Aufstieg der einen durch Bildung, Globalisierung und Liberalisierung entspricht der ökonomische und insbesondere auch kulturelle Abstieg der anderen. Es ist eine Stärke von Habecks Analyse, dass er ausdrücklich diese kulturelle Perspektive einbezieht. Er kann so viel klarer machen, was dazu führt, dass sich Menschen von Staat, Gesellschaft und Demokratie abwenden: mangelnde Anerkennung! Und er beobachtet eben auch, dass das kulturell liberale Milieu der ökonomischen Gewinner dabei das Gemeinwesen aus dem Blick verliert: „Wer sich mit der Feier des Ichs absolut setzt, läuft Gefahr, arrogant zu wirken (oder zu sein) und sich als etwas Besseres als die schnöde Normalität und die öden Normalos zu begreifen. Dass die sich dann entweder beschämt abwenden oder zornig empören, darf niemand verwundern.“ Eine brisante Erkenntnis, weil der Autor festhält, dass sich seine eigene Partei besonders aus dem Milieu der scheinbar kulturell Überlegenen rekrutiert. Habeck will der Paternoster-Situation mit einer Kultur des Dialogs begegnen. Diese spielt die „harte“ Seite des Problems nicht herunter, also ökonomische Ungleichheiten oder die Notwendigkeit des ökologischen Umbaus der Wirtschaft. Doch nur in einer „neuen Kultur der Gemeinsamkeit“ könne es gelingen, etwa die Klimakrise zu bewältigen, ohne breite Teile der Gesellschaft für die Demokratie zu verlieren.
Wohl ohne es zu wissen, liefert der Grünen-Chef damit eine Ausarbeitung dessen, was Papst Franziskus in seiner jüngsten Enzyklika Fratelli tutti die „Politische Liebe“ nennt. „Politische Liebe“ ist der Schlüsselbegriff der gesamten Soziallehre von Papst Franziskus – und wirkt doch ein wenig blauäugig. Liebe in der Politik? Ist das nicht ein hölzernes Eisen? Die Überlegungen Habecks, der sich einmal als „säkularer Christ“ bezeichnete, zeigen, dass „Politische Liebe“ nicht etwas für Hippies ist. Habeck kommt auf seine Zeit als Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein zu sprechen, um zu zeigen, dass es für die harte Politik einen Unterschied macht, wenn man sich wirklich aufeinander einlässt.
Kompromiss im Wa(h)lkampf
So erzählt er etwa, wie er vor der Ostseeküste Schutzzonen für Schweinswale einrichten wollte. Das Problem: Die Kutter konnten nicht mehr rentabel fischen. Die Proteste waren erbittert, die Wut groß. Dazu Habeck: „Ich sah in diesen Wochen viele Fischerwohnstuben von innen und wir fanden eine Lösung: keine Sperrgebiete, aber eine Verkürzung der Netzlänge in den Sommermonaten, in denen die Schweinswale kalben… Die freiheitliche Demokratie lebt vom Zuhören und Hinterfragen. Davon, dass der andere recht haben könnte.“ Das klingt fast wie bei Papst Franziskus in Fratelli tutti (vgl. Abschnitt 212). Allein daher lohnt sich das Buch für alle, die sich fragen, wie eine Politik mit christlicher Grundhaltung gehen kann. Es zeigt, wie man die Herausforderungen des Klimawandels, der Globalisierung und der Digitalisierung anpackt, ohne zu spalten und zu polarisieren – und ohne deswegen seine Überzeugungen aufgeben zu müssen.
Doch gelingt es Habeck nicht, alle Überlegungen in ein ausgewogenes Verhältnis zur „neuen Kultur der Gemeinsamkeit“ zu bringen. So träumt der Grünen-Chef etwa von einer Einheitsschule. Doch wird diese wirklich der angestrebten Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung gerecht? Oder wäre es nicht klüger, das dreigliedrige Schulsystem zu stärken und so unterschiedliche Begabungen unterschiedlich zu fördern und sie so in ihrem Eigenwert anzuerkennen?
Auch beim Thema Umwelt geht es Habeck manchmal eher um Verbote als um eine Politik, die der Wirtschaft zwar einen Rahmen setzt, sich dann aber nicht einmischt. Dabei würde genau das wohl eher ermutigen, sich eigenverantwortlich und kreativ um Nachhaltigkeit zu bemühen. Als „Subsidiaritätsprinzip“ ist ein solches Denken von unten nach oben ein Grundpfeiler der christlichen Soziallehre: Die kleineren Einheiten haben das Recht und die Pflicht, all das zu erledigen, was sie selbst tun können.
Dennoch ist Habecks politischer Entwurf lesenswert. Nimmt man ihn beim Wort, lässt er ja gerade bei strittigen Punkten mit sich reden. Also: Aus christlicher Perspektive ist „Von hier an anders“ eine inspirierende Lektüre.