Fastenzeit mit Annette Schavan

Das hat es ja nicht mal im Krieg gegeben.“ – So hat eine Italienerin in den ersten Tagen der Ausgangssperre angesichts geschlossener Kirchen gesagt. Sie blieben auch an Ostern 2020 zu. Der Papst wirkte verlassen in der großen Basilika Sankt Peter, und niemand kann sich daran erinnern, dass der Petersplatz am Ostermorgen jemals zuvor menschenleer gewesen ist. Bis heute ist dieser Platz mit den ihn umgreifenden Kolonnaden ein Bild einer sich versammelnden Welt. Eindrückliche Bilder, die Milliarden Menschen weltweit gesehen haben, zeigen Papst Franziskus dort am 27. März 2020 beim Gebet vor einem Kreuz, das eigens aus der Kirche San Marcello al Corso auf den Petersplatz gebracht worden war. Dieses Kreuz war in Rom zu Zeiten der Pest 1522 bei Prozessionen durch die Stadt getragen worden.

Der Papst spendete jenen Segen Urbi et orbi – der Stadt (Rom) und dem Erdkreis –, zu dem sich in meiner Jugend katholische Familien an Ostern und Weihnachten vor dem Fernseher versammelten. Diesmal wirkten die Bilder und der Segen weit über die katholische Welt hinaus als eine starke Botschaft des Papstes an die Menschheit – und als eine Ermutigung, der Zeitenwende Raum zu geben. Da waren nicht Katholiken unter sich; vielmehr wurde deutlich, dass die Christenheit, die in allen Teilen der Welt präsent ist, der Menschheit in dieser zerbrechlichen Welt den leidenden Christus am Kreuz zeigt. Es ist eine Botschaft der Solidarität im Leiden. Das Leiden verbindet über soziale, nationale, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg. Das Kreuz, an dem ein geschundener Leib zu sehen ist, zeigt Tragik und Schmerz, bleibt anstößig und strahlt doch auch eine Festigkeit aus. Wo es zu sehen ist, beansprucht es die Auseinandersetzung. Es lässt Menschen nicht gleichgültig. Das Kreuz drückt ein skandalöses Geschehen aus, das durch nichts gemindert werden kann. Es steht ebenso – und vor allem – für die Solidarität Gottes mit dem Menschen, die mit seiner eigenen Menschwerdung reale Gestalt angenommen hat. Der Tod und die Auferstehung Christi stehen im Zentrum des Glaubens der Christenheit. So brachte Papst Franziskus die christliche Verbundenheit mit einer weithin verunsicherten Welt zum Ausdruck.

Aus: Annette Schavan, „geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums“, © Patmos Verlag, Ostfildern 2021

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