Friedenspolitik hat für die Päpste eine lange Tradition: Während des Ersten Weltkriegs startete Benedikt XV. eine Friedensinitiative, die allerdings ins Leere lief. Und kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rief Pius XII. über Radio Vatikan beschwörend: „Nichts ist mit dem Frieden verloren; alles kann verloren sein mit dem Krieg.“ Johannes Paul II. organisierte ab 1986 gemeinsame Friedensgebete der Religionen, dachte während des Bosnienkriegs laut über „humanitäre Interventionen“ nach und warnte 2003 öffentlich und über alle diplomatischen Kanäle – allerdings vergeblich – vor einem westlichen Eingreifen im Irak.
Nun ist die Reihe an Franziskus. Nur Stunden nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ließ sich der Papst zur russischen Botschaft beim Heiligen Stuhl fahren, um eine halbe Stunde lang mit Putins Vertreter über seine tiefen Sorgen angesichts des Kriegs zu sprechen. Ein ungewöhnlicher Schritt: Normalerweise wird ein Botschafter in solchen Fällen in den Palazzo Apostolico zitiert. Franziskus hingegen setzte sich selbst in Bewegung, um den Diplomaten aufzusuchen. Daraus spricht Demut – aber wer weiß schon, ob man im Kreml diese Sprache versteht?
Überhaupt ließ es der argentinische Papst in den ersten Tagen des Waffengangs an Appellen und Gebeten nicht fehlen. Er telefonierte mit dem bedrängten ukrainischen Präsidenten Selenskyj – ob auch mit Putin, das wurde nicht bekannt –, er setzte für den Aschermittwoch einen Tag des Fastens und Betens für den Frieden in der Ukraine an, und er sprach beim sonntäglichen Angelus in bewegten Worten über den Irrsinn des Krieges und rief nach humanitären Korridoren.
Wer genau hinhörte, dem konnte auffallen, dass Franziskus den Namen des Aggressors Russland nicht klar markierte. Galt sein Ausruf „Legt eure Waffen nieder“ etwa auch den Ukrainern?
Doch wer genau hinhörte, dem konnte auffallen, dass Franziskus den Namen des Aggressors Russland nicht aussprach und auch nicht klar markierte, wem sein Ausruf „Legt eure Waffen nieder“ galt. Etwa auch den ukrainischen Verteidigern? Im Vatikan wird darauf hingewiesen, dass auch Pius XII. in seiner Brandrede vom August 1939 den Aggressor Hitler nicht beim Namen genannt hat. Und ebenso habe es auch Johannes Paul II. 1998 während des Kosovo-Konflikts gehalten: Der Name Milosevic kam ihm nicht über die Lippen. So gesehen ist Franziskus jetzt einfach in die bewährten Fußstapfen vatikanischer Friedenspolitik getreten.
Dennoch ist der Eindruck der Leisetreterei nicht ganz von der Hand zu weisen. Schließlich konnte man in diesen Tagen im Vatikan Leute treffen, die verstimmt waren über den beherzten Aufruf des ukrainisch-katholischen Großerzbischofs Schewtschuk, jetzt zu den Waffen zu greifen, um das Land gegen die Russen zu verteidigen. Man müsse doch auch sehen, dass im Verhältnis des Westens zu Russland in der Vergangenheit große Fehler passiert seien, und zwar „nicht nur auf einer Seite“, wie es in einem Meinungsartikel der Vatikanzeitung am 23. Februar hieß. Ja, es gab auch im Vatikan Putin-Versteher – selbst wenn sicher niemand am Heiligen Stuhl die Entscheidung des Kreml-Herrn zum Krieg billigt.
Wer sich an die vatikanische Ostpolitik während des Kalten Krieges erinnert, dem wird das samtpfötige Auftreten gegenüber Moskau bekannt vorkommen. Rückblickend scheint diese Ostpolitik zwar eine Erfolgsgeschichte gewesen zu sein, schließlich wurde unter dem polnischen Papst Johannes Paul II. die erste freie Gewerkschaft im Ostblock gegründet und die Berliner Mauer zum Einsturz gebracht. Doch in den Jahrzehnten vor dem polnischen Pontifikat (ab 1978) stand die Ostpolitik made in Vatican keineswegs so glänzend da. Immer wieder düpierten die Kontakte Roms zu den Regimen die jeweilige Ortskirche, wofür emblematisch der Fall von Kardinal Mindszenty steht.
Auch jetzt könnte man, trotz des drängenden Werbens aus dem Vatikan um Frieden, den Eindruck gewinnen, dass der Papst keine allzu deutliche Sprache spricht, um mögliche Friedenskanäle nicht zu verschließen und Putin, den man für einen Frieden (nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Syrien) und für die ökumenischen Kontakte zur russisch-orthodoxen Kirche noch brauchen könnte, nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Als Franziskus am ersten Kriegstag während eines Online-Dialogs mit Jugendlichen auf den Ukraine-Konflikt angesprochen wurde, überhörte er die Frage einfach – was sonst überhaupt nicht sein Stil ist. Und beim schon erwähnten Angelus-Appell stellte er den Ukraine-Krieg in eine Reihe mit anderen Konflikten (Jemen, Syrien, Äthiopien), was den europäischen Krieg gewissermaßen relativiert. Um auszudrücken, dass Krieg zu ächten sei, zitierte er dann seltsamerweise aus der italienischen Verfassung – vielleicht ein Indiz dafür, dass ihm bei seinem Text Bedenkenträger aus dem italienisch dominierten Staatssekretariat die Feder geführt hatten.
Wie man im Staatssekretariat über Putins Einfall im Nachbarland denkt, wurde aus einer Videobotschaft von Kardinalstaatssekretär Parolin kurz nach dem Start der Invasion deutlich. Franziskus’ Chefdiplomat, der einer der Architekten des umstrittenen Geheimabkommens mit der Volksrepublik China ist und daher von vielen mit einer Neuauflage der alten vatikanischen Ostpolitik in Verbindung gebracht wird, sprach immerhin explizit von „russischen Militäroperationen auf ukrainischem Gebiet“. Doch dann fuhr er fort: „Noch ist Zeit für guten Willen, noch gibt es Raum für Verhandlungen“ – als wäre Russlands Überfall aufs Nachbarland nicht längst im Gang.
Ich weiß nicht, ob jemandem aufgefallen ist, dass die Worte des Kardinals fast die Paraphrase eines Anti-Kriegs-Appells Johannes Pauls II. waren. Der heilige Pole erklärte 2003 beim Angelus: „Es ist noch Zeit zum Verhandeln; es gibt noch Raum für den Frieden.“ Aber das war vier Tage bevor die ersten westlichen Bomben auf Bagdad fielen; hier stand tatsächlich noch ein Fenster für Verhandlungen offen. Nun aber, nach dem Start der russischen Offensive, war unklar, woher Parolin seinen Verhandlungs-Optimismus nahm. Putins Vatikanbotschafter ließ jedenfalls am selben Tag, nach seinem Gespräch mit Franziskus, Journalisten wissen, der Papst habe keineswegs eine Vermittlung des Vatikans zwischen Russland und der Ukraine angeboten. Doch im Gespräch mit mehreren Tageszeitungen legte Kardinal Parolin einige Tage später nach: Der Vatikan sei bereit, alles Nötige zu tun, um einen Dialog zwischen den Kriegsparteien zu unterstützen. „Wir müssen jede Eskalation vermeiden, den Krieg beenden und verhandeln.“
Nun ist das Verhältnis des Vatikans zu Russland schon seit Jahrzehnten ein Drahtseilakt. Das Moskauer Patriarchat reagierte tief verstimmt auf die Errichtung katholischer Bistümer auf „seinem“ kanonischen Territorium durch den Vatikan und erwies sich als schwieriger ökumenischer Partner. 2016 kam es zwar erstmals zu einer Begegnung zwischen einem Papst und einem Patriarchen von Moskau (davon hatte Johannes Paul II. sein ganzes Pontifikat hindurch vergeblich geträumt), doch die gemeinsame Erklärung beider Kirchenführer verärgerte wiederum die griechisch-katholische Kirche der Ukraine. Diese Kirche ist nach einem historischen Treffen Johannes Pauls mit dem damaligen Sowjetführer Gorbatschow Ende 1989 nach Jahrzehnten der Verfolgung wieder aus den Katakomben ans Tageslicht geklettert; sie beäugt aber die Vatikankontakte nach Moskau sehr misstrauisch.
Je zäher die Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche sich gestalteten, desto mehr lag der Vatikandiplomatie naturgemäß an guten Kontakten zum Kreml. Putin war bei Franziskus schon dreimal in Audienz, zuletzt im Sommer 2019. Botschafter Awdejew, der schon zu Sowjetzeiten Diplomat wurde und sein Amt in Rom kurz vor der Wahl des jetzigen Papstes angetreten hat, behauptete einmal in einem Interview, der russische Präsident und Franziskus als „geistiger Führer“ des Westens teilten eine „universelle Vision“, beide seien „an Stabilität und Sicherheit interessiert“.
Franziskus will den Frieden in der Ukraine. Gerade deshalb schreckt er davor zurück, alle Brücken zum Kreml abzubrechen.