Den Betroffenen kann niemand ihr Leid nehmen: Familien werden zerrissen, Lebenspläne scheitern, Verletzte und Tote sind zu beklagen, Angst greift um sich, Misstrauen – aber auch Hoffnung keimt auf, Widerstand regt sich, mutiger Protest wird laut. Der Krieg fordert Opfer, zuerst die schwächsten Glieder einer Gesellschaft: die Frauen und Kinder, die vertrieben, dann die Männer, die zu den Waffen gerufen werden. Nicht wenige wollen Helden sein. Blut, Schweiß und Tränen bleiben den wenigsten erspart. Gibt es ein Ende? Eine Wende? Gar ein Jenseits?
Schwerer als die militärischen und diplomatischen sind die religiösen Dimensionen ins Wort zu fassen. Sie sind aber elementar. Deutlich ist geworden, wie Religion von den russischen Potentaten, den politischen wie den kirchlichen, benutzt wird, um den Krieg zu rechtfertigen. Die heilige Heimat gelte es wiederzugewinnen, die Dekadenz des Westens müsse ferngehalten werden. Christliche Orthodoxie und politischer Nationalismus gehen Hand in Hand.
Aber dies ist nur die eine Seite. In der Ukraine gibt es eine Ökumene des Friedens: Nicht allein die unierte katholische Kirche und evangelische Gemeinschaften sind Teil dieser Bewegung, sondern auch die griechisch-orthodoxe und die unabhängige (autokephale) ukrainisch-orthodoxe Kirche. Sogar die russisch-orthodoxe Kirche in der Ukraine, die mit dem Moskauer Patriarchat verbunden ist, feiert nicht Putin als Befreier, sondern ruft zum Frieden auf. Die Solidaritätsadressen aus den christlichen Kirchen der Welt lassen an Klarheit wenig zu wünschen übrig. Nur Papst Franziskus war lange merkwürdig unentschlossen.
Die religiöse Dimension ist von der militärischen Verteidigung, der Friedensdiplomatie und der solidarischen Caritas nicht zu trennen, auch wenn es keineswegs nur gläubige Menschen sind, die auf der Seite der Überfallenen stehen. Aber wer sagt, Gott zu lieben, muss auch die Nächsten lieben – und die Ukraine ist durch den Krieg viel näher gerückt, als die Landkarte es ermessen lässt. Nach Wegen des Friedens, des Ausgleichs, der Versöhnung zu suchen, auch wenn kein Idealzustand erreicht, sondern nur Gewalt minimiert werden kann, ist ein Gebot politischer Ethik, das im Glauben ebenso tief verwurzelt ist wie in der Vernunft. Selbstverteidigung verbietet die Bergpredigt nicht, wenn sie zeigt, wie weit Menschen zu gehen bereit sein sollen: bis zur Selbstverleugnung, um die Chance zu ergreifen, Feindschaft zu überwinden.
Wie kann Gott die Gewalt zulassen? Je stärker der Glaube ist, desto mehr schmerzt es, diese Frage stellen zu müssen – und auszuhalten, dass es keine befriedigende Antwort geben kann.
Die Gottesfrage bohrt noch tiefer. Wie kann Gott das Unrecht, die Gewalt, den Terror zulassen? Je stärker der Glaube an Gott ist, desto mehr schmerzt es, überhaupt nur diese Frage stellen zu müssen, geschweige denn mit dem Umstand zu leben, dass es keine befriedigende Antwort geben kann, solange Unschuldige leiden. Bei Hiob ist das zu lernen, auch bei Paulus.
Die Aufhebung der perversen Theodizee, wonach Gott die Ungläubigen, die Unvorsichtigen, die Unvernünftigen strafe, was man an ihrem Leid sehen könne, ist der erste Schritt – der immer wieder gegangen werden muss, weil das Vorurteil tief im individuellen und kulturellen Gedächtnis sitzt, dass die Opfer selbst schuld sein müssten an ihrem Elend. Jesus hat diesen Mechanismus scharf kritisiert: an seinen Jüngern, die bei einem Menschen, der von Geburt an blind gewesen ist, meinten urteilen zu müssen, dass entweder er oder seine Eltern Schuld auf sich geladen haben. Nein, sagt Jesus, „dass Gottes Werke an ihm offenbar werden“. Tatsächlich will und wird er ihn heilen (vgl. Joh 9,1–5).
Allein, was hilft dieses Hoffnungszeichen den Menschen, die in den U-Bahn-Schächten Schutz suchen und an den Grenzen stunden-, ja tagelang warten? Was hilft es den Kindern in den Lagern, den Verwundeten und den Trauernden? Die Bibel öffnet die Augen für das Leid, das nicht zu rechtfertigen ist. Sie versucht nicht, Gott vor diesem Unheil abzuschirmen. Sie versucht auch nicht, Gott als Handelnden neben menschlichen Akteuren in Szene zu setzen, so dass er seine Heiligkeit durch die Inszenierung einer Katastrophe unter Beweis stellen müsste. Sie sucht Gott mitten im Unheil, in der Not und im Leid. Sie sucht ihn dort mit den gläubigen Frauen und Männern Israels und der jungen Kirche. Sie sucht ihn auch mit den Augen Jesu.
Jesus setzt sich mit den Katastrophen seiner Zeit auseinander. Der größte Schrecken geht vom Jüdischen Krieg aus, einem Aufstand gegen Rom, der blutig niedergeschlagen wird und mit der Zerstörung Jerusalems endet. Jesus hat den Evangelisten zufolge diesen Untergang vorhergesehen. Er hat vor der Katastrophe gewarnt. Aber er hat kein Gehör gefunden. Die Evangelien sind unter dem unmittelbaren Eindruck des Krieges oder kurz danach geschrieben worden, als die Wunden noch nicht vernarbt waren.
Die Einstellung zu diesem Krieg und zu allen anderen Kriegen hat Lukas in einer knappen Szene festgehalten, die alle Jerusalempilger kennen (vgl. Lk 19,41–44): Dominus flevit – Der Herr hat geweint. So heißt eine kleine Kapelle am Ölberg, von der aus man einen weiten Ausblick über die Altstadt hat. Jesus ist voller Kritik, sowohl an den politischen Machthabern, die Unschuldige töten, als auch an den religiösen Führern, die keine Vorsorge treffen, dass die heiligen Stätten Vororte des Friedens sind. Aber er will nicht Recht behalten: Er hat Mitleid – in echter Anteilnahme. Dies soll auch die Haltung derer sein, die ihm nachfolgen: nicht Wut auf diejenigen, die Jesu Warnungen in den Wind geschlagen haben, nicht das Ressentiment derer, die seinen Feinden den Tod Jesu nicht vergeben mochten, sondern die Offenheit für Jesus, der die religiöse Aufladung des Krieges radikal kritisiert, aber den Blick auf diejenigen richtet, die unter ihm zu leiden haben.
In der Bibel sind es „Apokalypsen“, die über das Unheil aufklären, zu Deutsch: Offenbarungen. Sie haben ein schlechtes Image, als ob sie eine überwältigende Bilderflut entwerfen würden und ausrechnen lassen wollten, wann das Ende der Welt kommt. Aber dieses Vorurteil kann keinen Bestand haben. Das zeigen die Künste aller Zeiten, die sich besonders stark von den Apokalypsen des Alten wie des Neuen Testaments haben inspirieren lassen, darunter nicht zuletzt von den Endzeitreden Jesu (vgl. Mk 13; Mt 23–25; Lk 17,20–37; 21,5–36). Apokalypsen sprechen eine Sprache der Bilder; es sind diese Bilder, die dem Realitätsschock der Kriege und Bürgerkriege standhalten, der Naturkatastrophen und der psychischen Verwundungen. Sie erklären sie nicht, sondern zeigen, dass es sie in der Welt gibt. Sie machen den Schmerz sichtbar, den Unrecht und Unheil in der Welt verursachen. Sie stellen ihn vor Gott – sie fragen nach seiner Antwort.
Das Wichtigste, was die biblischen Apokalypsen zeigen: dass es ein Ende des Leidens, der Kriege, der Katastrophen gibt. Gott macht ihnen ein Ende. Sein Reich ist nicht die unendliche Verlängerung dessen, was ist, sondern die Verwandlung des Todes ins Leben. Wann das geschieht, kann niemand wissen. Denn es geschieht immer wieder, hier und jetzt, im Großen wie im Kleinen.
Die Seligpreisungen machen klar, dass Gott den Opfern Recht verschaffen wird. Es gibt ein Ende allen Leidens – das gibt Hoffnung, wider alle Hoffnungslosigkeit.
Dass es ein Ende gibt und dass in seinem Jenseits nicht das Nichts lauert, sondern das pure Leben, macht Hoffnung – wider alle Hoffnungslosigkeit. Sie macht den Schmerz nicht geringer, aber sie öffnet die Augen dafür, dass das Unrecht nicht triumphieren wird. Die Opfer werden nicht auf alle Zeit und Ewigkeit Opfer bleiben. Die Seligpreisungen machen klar, dass Gott ihnen Recht verschafft.
Weil die Zeit der Kriege und des Leidens definitiv begrenzt ist, braucht niemand zu resignieren, dass doch nichts zu ändern sei. Weil die Kriege, die Menschen zu Opfern machen sollen, weder Gotteskampf noch Teufelslist, sondern Menschenwerk sind, können sie auch mit menschlichen Kräften beendet werden. Friede entsteht erst dann, wenn die Versöhnungsarbeit beginnt. Im Moment spricht alles dagegen. Aber die Zeiten werden sich ändern. Dann werden die Kirchen gefragt sein. Sie müssen sich jetzt schon darauf vorbereiten: durch Wachsamkeit und Nüchternheit, durch Ideologiekritik und Friedenswillen, durch eine Gottesverkündigung, die den Angriffskrieg ächtet, und durch eine Nächstenliebe, die politisch wird.