Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Gen 20,2) – so lautet die Präambel des Dekalogs. Die darauffolgenden Zehn Gebote stehen somit nicht einfach beziehungslos im luftleeren Raum, sondern sie sind untrennbar mit dem Errettungsgeschehen durch JHWH verbunden, frei nach dem Motto: Ich habe euch aus Ägypten geführt, jetzt ist es eure Aufgabe, mit dieser geschenkten Freiheit verantwortungsvoll umzugehen, euren Gott zu ehren und einen friedlichen, solidarischen und rücksichtsvollen Umgang miteinander zu pflegen. Die untrennbare Verbindung von Freiheit und Verantwortung wird dem Volk Israel somit von Beginn an ins Stammbuch geschrieben.
„Zur Freiheit berufen“
Diese untrennbare Koppelung wird auch von Jesus gelehrt, vertieft und vorgelebt, und Paulus betont in seinem Brief an die Galater ebenfalls, dass wir Christen von Gott nicht einfach in eine selbstbezogene Anything-goes-Liberalität gesetzt, sondern „zur Freiheit berufen“ (Gal 5,13) sind. Wenn man aber zu etwas berufen wird – beispielweise in ein hohes Amt –, dann ist das immer auch an eine entsprechende Verantwortung geknüpft.
In Zeiten von pandemiebedingten Schutzmaßnahmen und gleichzeitig laut werdenden Rufen nach einem sogenannten Freedom-Day erhält die Frage nach Freiheit und Verantwortung wieder eine neue Brisanz, besonders nachdem die Bundesregierung gerade beschlossen hat, die bisherigen Vorsichtsmaßnahmen massiv zu reduzieren – während gleichzeitig die Infektionszahlen auf ein nie dagewesenes Hoch schießen.
Gelebte Nächstenliebe
Ja, natürlich sehne auch ich mich danach, eines Tages endlich wieder viele liebe Menschen zu umarmen, meine Kinder nicht jeden Morgen mit der Frage „Hast du deine Maske?“ in die Schule verabschieden zu müssen oder mich in ein festliches Getümmel zu werfen. Aber ich sehe auch, wie enge Verwandte seit nunmehr zwei Jahren auf fürchterliche Weise unter Long Covid leiden, wie aggressiv dieses Virus aktuell in meinem gesamten Umfeld wütet, und ich habe erst kürzlich miterleben müssen, wie sich Corona in rasanter Geschwindigkeit durch meine gesamte Familie „gefressen“ hat und meine sonst sehr quirligen Kinder binnen Stunden in hochfiebernde Patienten verwandelt hat.
Nein, deutliche Lockerungen oder gar ein Freedom Day sind, so sehr wir uns alle danach sehnen, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht die richtige Antwort auf die aktuelle Lage und stellen eine einseitige, prekäre und – durch die drohenden Coronatoten – sogar eine potenziell tödliche Form von Freiheit dar. Aber wir sind immerhin so frei, selbst Verantwortung übernehmen zu können, Nächstenliebe zu leben und auch weiterhin die Schutzmaßnahmen aufrechtzuerhalten – bis wir eines hoffentlich nicht zu fernen Tages guten Gewissens alle Masken fallen lassen können.