EditorialGewaltsame Zeit

Wir dürfen uns nicht an Gewalt gewöhnen: nie, nirgendwo.

Vor mir liegt eine Regionalzeitung, und ich ärgere mich über das Titelbild. „Ohrfeige bei den Oscars“ lautet die Schlagzeile. Darunter das Foto des Schauspielers Will Smith, wie er dem Komiker Chris Rock ins Gesicht schlägt. Sicher, die Szene bei der Filmpreisverleihung in Hollywood war ein Eklat, also nach journalistischen Kriterien eine berichtenswerte Nachricht. Aber war es wirklich der ikonische Moment des Tages, das aussagekräftigste Bild der vergangenen Stunden, das eine Zeitung ins Schaufenster stellen muss? Was denken sich Kinder, frage ich mich, wenn sie das sehen? Schon irgendwie in Ordnung, die Dinge so zu regeln? Wenn es gut läuft, kommt man damit sogar auf ein Cover...

Zumal es der begleitende Text nicht wirklich besser macht. Die Tätlichkeit wird darin bagatellisiert, indem der Kollege das Ganze irgendwie verständnisvoll kommentiert. Will Smith habe Chris Rock „auf handfeste Weise Manieren beigebracht“, heißt es da zünftig, Zwinker-Smiley mitgedacht. Anderswo las ich von einer „Backpfeife“, einer „ordentlichen Watschn“, einer „Schelle“. Der gemeinsame Tenor dabei ist: Alles halb so schlimm, kann ja mal vorkommen, dass einem die Hand ausrutscht, zumal wenn man provoziert wird. Hatte nicht sogar Papst Franziskus sinngemäß einmal gesagt, es sei schon irgendwie okay, Kinder körperlich zu züchtigen, solange man sie nicht ins Gesicht schlage. Sogar zu einem „Wie schön!“ vergaloppierte sich der Pontifex damals.

Für Journalisten gilt nach dem Leitspruch Rudolf Augsteins: Sie sollen „sagen, was ist“, auch über die denkwürdig-blamable Oscar-Nacht. Das hieße zu benennen, dass hier zu bester Sendezeit öffentlich eine Körperverletzung stattgefunden hat. Und dass diese Gewalt in der Folge systematisch verharmlost wurde. Dass genau das nicht in Ordnung geht, weil es die Grenzen verschiebt, die Spielregeln für unser Miteinander verletzt.

„Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin“, heißt es im Evangelium (Lk 6,29). Ist das eigentlich genauso naiv, wie darauf zu hoffen (und sich aktiv dafür einzusetzen), dass überhaupt keiner einem anderen auf die Wange schlägt?

Na klar, wir leben in gewaltsamen Zeiten. Und nicht jede Ohrfeige führt in direkter Linie in den Krieg. Aber wir dürfen uns nicht an Gewalt gewöhnen. Deshalb sollen wir auch nicht nach Kämpfer-Helden rufen, die vermeintlich starken Männer bewundern. Alles alternativlos? Der große christliche Dichter Lothar Zenetti (1926–2019) hat einmal geschrieben: „Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben. Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein.“

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