EditorialTragik und Realität

„Die Europäer haben den Sinn für das Tragische und den Sinn für die Realität verloren.“

Hinterher alles besser zu wissen, ist keine große Kunst. Der französische Schriftsteller und Philosoph Bernard-Henri Lévy („BHL“, wie ihn unsere Nachbarn respektvoll nennen) kann dagegen für sich in Anspruch nehmen, schon seit Jahren vor Putin gewarnt zu haben. Der 73-Jährige reist aus Prinzip – nein, aus Überzeugung – immer genau dorthin, wo Menschen verfolgt und bekriegt werden. 2014 sprach er auf dem Maidan in Kiew. BHL ist eine Institution, der man zuhört. „Ich wusste, dass Putin die Ukraine zum Tode verurteilen wollte“, sagte er jetzt in einem Interview mit der Zeit. Das klingt, als hätte er sogar die Bilder aus Butscha – die bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe jüngste grauenhafte Eskalation in diesem Krieg – bereits vorhergesehen.

Und wie blickt der berühmte Intellektuelle auf den Westen, auf uns? „Wir waren vom Ende der Geschichte überzeugt. Wir dachten, das Zeitalter des Tragischen liege hinter uns. Wir dachten, dass die Institutionen, die wir erschaffen haben, widerstandsfähig genug wären … Wir lebten in einer Mischung aus historischem Optimismus und institutioneller Zuversicht … Wir dachten, dass uns nichts passieren könne. Das war ein dramatischer Irrtum.“ Man muss Lévy nicht in allem folgen, gerade auch nicht in den Schlüssen und konkreten Handlungsvorschlägen. Aber seine Analyse ist schmerzhaft-scharf und nicht von der Hand zu weisen. Hatten wir uns nicht zumindest unbewusst darauf eingestellt, dass sich alle Probleme „im Kommerz auflösen“ ließen, wie der Philosoph in dem Interview bilanziert? „Die Europäer haben den Sinn für das Tragische und den Sinn für die Realität verloren.“

Das Tragische und die Realität... Auch wenn wir jetzt in die Karwoche einbiegen, werden wir damit konfrontiert. Wir sind eingeladen, zum Kern unseres Glaubens vorzudringen. Wir sollen uns vergegenwärtigen, welch existenziellem, göttlichem Drama sich Jesus ausgesetzt hat. Hosianna, kreuzigt ihn... Jesus hat alles auf eine Karte, die Gottes-Karte gesetzt. Er hat bedingungslos vertraut – und wurde von Gott bestätigt. Das sogenannte Pascha-Mysterium, der Durchgang durch den Tod zum Leben: Mehr geht nicht. Tragik und Realität.

Diese Ausgabe, liebe Leserinnen und Leser, hat darüber hinaus einen weiteren thematischen Schwerpunkt. Sehr viele haben in den Wochen der Fastenzeit verfolgt, wie unser Kreativberater André Lorenz mit der „Versuchung, aus der Kirche auszutreten“, gerungen hat. Danke, dass Sie seinen Weg so intensiv begleitet haben. 

Verlag und Redaktion wünschen Ihnen gesegnete Kartage!

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