Den Winter der letzten Getreidebeschaffungskampagne, die Wochen des großen Hungers, habe ich nie vergessen. Oft habe ich davon erzählt, aber erst Jahrzehnte später begann ich, all das niederzuschreiben … Als ich das rasch Hingeschriebene durchging und es Freunden vorlas, meldeten sich Fragen in mir, uralte, scheinbar längst genau und endgültig beantwortete. Sie tauchten auf wie Minen eines vergangenen Krieges, rostig, aber immer noch gefährlich. Aber ganz neue Fragen stellten sich mir, unerwartet und lästig. Bestürzende Fragen an die Geschichte, an die Zeitgenossen, an mich selbst. Wie konnte all das geschehen?“ So schrieb der am 9. April 1912 in Kiew geborene Lew Kopelew stellvertretend für eine ganze Generation gläubig-enthusiastischer junger Intellektueller.
In seinem autobiografischen Band „Und schuf mir einen Götzen“ macht der Schriftsteller und Germanist mit jüdisch-ukrainisch-russischen Wurzeln auf das gewaltige Mobilisierungs-Potential des politischen Messianismus aufmerksam. Was Kopelew später kaum mehr nachvollziehbar erschien: Im Jahr 1932 requirierte er als Parteiaktivist Lebensmittel an der ukrainischen „Getreidefront“, obwohl da schon längst jene apokalyptische Hungersnot begonnen hatte, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Ukraine eingeprägt hat: der „Große Hunger“. Diesem Holodomor, wie er auf Ukrainisch heißt, fielen in der damaligen Sowjetrepublik schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer.
Tatsächlich handelte es sich dabei nicht um eine Umweltkatastrophe, sondern um eine künstlich von der Moskauer Zentrale herbeigeführte Hungersnot. Das in der „Kornkammer der Sowjetunion“ requirierte Getreide wurde mit Profit ins Ausland verkauft. Die privaten Bauern, Brotproduzenten zu normalen Zeiten, mussten aufgrund der von Stalin angeordneten Kollektivierung ihre Ernte hergeben, hatten jedoch, anders als Arbeiter in den Städten, selbst kein Anrecht, Nahrungsmittel zu erwerben. Bereits 1921 hatte Lenin geschrieben: „Der Bauer muss ein wenig Hunger leiden, um dadurch die Fabriken und die Städte vor dem Verhungern zu bewahren.“
Ideologie des „Neuen Menschen“
Kopelew bekennt bei der Frage nach seiner Mitschuld sein eigenes verblendetes Handeln: Der spätere Dissident beschreibt, wie ihn ein Welterlösungs-Glaube antrieb, seinen unmenschlichen Auftrag kalt zu exekutieren: „Damals glaubte ich, wir würden ein in der Geschichte der Menschheit noch nicht dagewesenes gerechtes System schaffen, das allen Menschen ohne Ausnahme Frieden, Freiheit und alles Glück der Erde brächte.“
In dieser geradezu eschatologischen Hoffnung auf den „Neuen Menschen“ manifestiert sich ein wesentliches Merkmal von Kopelews säkularisiertem Messianismus: Erlösung wird nicht mehr (wie in der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte) als Geschenk am Ende der Tage ersehnt, sondern von einer quasigöttlichen Autorität – später sprach der Schriftsteller ganz bewusst von einem „Götzen“ – erwartet. Gewalt ist dafür geheiligt, um ins Gelobte Land der kommunistischen Gesellschaft einziehen zu können. Persönliche Schuld wird suspendiert.
Dass Kopelew, der in seinen späteren Jahren einem alttestamentlichen Propheten immer ähnlicher sah, eine tiefgreifende Wandlung vom kommunistischen Aktivisten zum jüdisch-christlich inspirierten Humanisten durchmachte, ist in dem Band „Aufbewahren für alle Zeit!“ nachzulesen. Der Titel bezieht sich auf den Stempelaufdruck, mit dem in der UdSSR jene Gerichtsakten versehen wurden, in denen es um Staatsverbrechen erster Klasse ging. Zu einem solchen Kriminellen, der Gesetze auf schlimmste Weise gebrochen hatte, wurde im April 1945 auch Kopelew abgestempelt. Dieser hatte sich nämlich als Major der Roten Armee den Plünderungen und Vergewaltigungen in Ostpreußen widersetzt, was ihm zu Kriegsende den Vorwurf des „Mitleids mit den Deutschen“ einbrachte – und zu neun Jahren Straflager und GULAG führte.
Im Gegensatz zu Alexander Solschenizyn richtete sich der Regimekritiker jedoch nie in einer antiwestlich-slawophilen Haltung ein. Gemeinsam mit seiner Frau, der Amerikanistin Raissa Orlowa, wurde er nach seiner Ausbürgerung 1981 vielmehr zu einer zentralen Gestalt im geistigen Leben der Bundesrepublik.
In seinem Herzen war viel Platz
Dass Kopelew zur Versöhnung zwischen Ost und West einen Beitrag leisten und mit einem Wuppertaler Forschungsprojekt der „West-östlichen Spiegelungen“ zur Differenzierung des deutschen Russlandbildes beitragen konnte, ist vor allem der Fürsprache seines engen Freundes Heinrich Böll zu verdanken. Die Herausgeberin der „ZEIT“, Marion Gräfin Dönhoff, hat in ihrer Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1981 über Kopelew gesagt: „In seinem großen Herzen hatten sie alle Platz: Christen und Juden, Polen und Deutsche, Kommunisten und Oppositionelle.“