EditorialErschütterungen

Ein Kreuzzeichen, das einen erschaudern lässt.

Es ist kaum auszuhalten. Unter den vielen Fotos, die uns die Agenturen in den letzten Tagen vom orthodoxen Osterfest übermittelt haben, war auch eine Bilderstrecke aus der Moskauer Erlöserkathedrale. Wie in den letzten Jahren hat Wladimir Putin dort mit seinem Patriarchen Kyrill Ostern gefeiert – so, als wäre nichts geschehen, als hätten die beiden nichts verbrochen. Die Kameras haben trotzdem genauer als sonst hingeschaut und jede Bewegung des Kriegstreibers aus dem Kreml beobachtet, fast schon seziert. In Einzelaufnahmen, in Zeitlupe gewissermaßen, ist da etwa zu verfolgen, wie Putin ein Kreuzzeichen macht. Das ist eine Bilderfolge, die einen schaudern lässt. Das elementare Erkennungszeichen, unter dem alle Christen stehen, derart missbraucht, ja entweiht! Muss ich künftig daran denken, wenn ich mich selbst bekreuzige? Oder wenn ich sehe, wie Kinder, etwa bei der Erstkommunionvorbereitung, noch etwas ungelenk üben, bis sie das Kreuz einigermaßen hinbekommen? Und gesellen sich in meinem Kopf automatisch auch die Aufnahmen der toten Zivilisten von Butscha und andernorts dazu? Bilder und ihre Macht...

Das Kreuzzeichen des Kreml-Despoten steht stellvertretend für die umfassende Erschütterung vieler unserer Gewissheiten und Überzeugungen, die wir gerade erleben. Die in neuer Weise von geopolitischen Konflikten – von Krieg! – geprägte Weltlage verlange eine Neubewertung christlicher Friedensethik, meinen derzeit viele. In atemberaubender Geschwindigkeit ist ja die politische Mehrheitsmeinung umgeschwenkt: Jetzt kann es nicht schnell genug gehen mit der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Doch ist das wirklich die einzige Antwort, die uns einfällt? Selbst wenn das wirklich alternativlos ist: Was kommt nach der Nothilfe? Haben wir Christen mit unserer „Kernkompetenz“ als Glaubende eigentlich auch etwas zum aktuellen Geschehen beizutragen? Oder gilt nur die Logik der Politik, des Militärs, der Wirtschaft? Höchste Zeit für eine Einordnung, die der Münchner Theologe und Sozialethiker Markus Vogt vornimmt.

Mir ist in dem Zusammenhang noch etwas anderes aufgefallen: Erschütterung bedeutet ja nicht automatisch, dass alles zusammenbricht, worauf wir gebaut haben. Aber es ist durchaus ein Härtetest, eine Prüfung. Was hat Bestand? Und was war dann doch zu wackelig, nicht bis ins Letzte durchdacht, erspürt, im Innersten geglaubt? Ostern zum Beispiel, das wir 50 Tage lang feiern können, wozu uns das Kirchenjahr derzeit einlädt – nicht um uns mit erlernten Formeln zu beruhigen; sondern um immer mehr zum Kern vorzudringen.

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