Zuerst hatten sie den Fall des Priesters John Geoghan, zu dem das Investigativ-Team Spotlight des Boston Globe recherchierte. Dann wuchs die Liste auf 13 an und plötzlich, nach einem Telefonat mit einem Experten, auf 90 Priester, die Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht haben sollen, allein in Boston. Die Redakteure schrieben hastig mit, ungläubig und fassungslos. Das allein wäre eine große Story gewesen. Doch dann sagte der neue Chefredakteur der Zeitung Martin Baron dem Spotlight-Team: „Zeigen Sie mir, dass das von ganz oben kam.“ Das tat es. Und Spotlight zeigte es.
„Watergate der Kirche“
Vor genau 20 Jahren, am Dreikönigstag 2002, enthüllte der Boston Globe den massenhaften sexuellen Missbrauch durch Priester in der Erzdiözese Boston, dass die Kirche darum wusste und ihn systematisch vertuschte. Im Verlauf des Jahres veröffentlichte die Zeitung rund 600 weitere Beiträge zum Thema, 249 Geistliche allein im Erzbistum Boston wurden beschuldigt, und zuletzt trat Kardinal Bernard Law zurück. Im Jahr 2015 wurde das „Watergate der katholischen Kirche“ (KNA) verfilmt und mit dem Oscar als Bester Film ausgezeichnet.
Die Berichterstattung des Boston Globe erschütterte die katholische Kirche und entsetzte Gläubige weltweit: wegen der Abscheulichkeit und des Ausmaßes des sexuellen Missbrauchs, vor allem aber auch wegen des Systems von Vertuschung eines „degenerierten Klerus“ (Spotlight-Chef Walter Robinson, im Film gespielt von Michael Keaton).
„Mach weiter…“
Rund 20 Jahre später, am 10. Dezember 2021, veröffentlichte Der Spiegel unter der Überschrift „Der Teufel hinter der Kirchentür“ das Ergebnis einer ähnlich aufwändigen Recherche im Bistum Trier. Die Lektüre schockiert immer noch, auch nach allem, was man inzwischen über sexuellen Missbrauch in der Kirche weiß. Schockierend war aber auch, wie wenig Reaktionen die investigative Geschichte nach sich zog, in der immerhin drei aktuellen Bischöfen – Stephan Ackermann, Reinhard Marx und Georg Bätzing – massive Vorwürfe gemacht werden. In bitterer Erinnerung bleibt der Satz von Papst Franziskus aus seinem Schreiben an Kardinal Marx, in dem er dessen Rücktrittsangebot am 10. Juni 2021 abgelehnt hatte: „Das ist meine Antwort, lieber Bruder. Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising.“
Das ist das Problem – 20 Jahre nach Boston, zwölf Jahre nach dem Canisius-Kolleg in Berlin, dreieinhalb Jahre nach der MHG-Studie, mitten im Synodalen Weg: Solange Bischöfe, in deren Zuständigkeitsbereich sexueller Missbrauch durch Geistliche systematisch vertuscht worden ist, im Amt bleiben dürfen, wird nichts mehr gut in unserer Kirche.