Wer sich anderen öffnet, macht sich verwundbar. Deshalb scheuen so viele das Risiko und bleiben in ihrer Blase. Umgekehrt: Wer handelt und gestaltet, muss aggressiv sein, hoffentlich zum Guten und Heilenden; aber fast automatisch sind damit Gefahr und Versuchung verbunden, zu verletzen. Wo der Mythos der Unverwundbarkeit herrscht, muss man aufgerüstet leben und „dicht“ machen – um den Preis freilich, dass einem das reale Leben abhandenkommt und alles abgeschottet wird. Ohne den Mut, sich wirklich berühren zu lassen, gibt es kein Leben, und Liebe schon gar nicht.
Nicht zufällig ist „Vulnerabilität“ inzwischen zu einem Codewort gegenwärtiger Problemverhältnisse und ihrer Deutung geworden – und Hildegund Keul, Fachfrau gerade auf diesem Gebiet, buchstabiert das auch theologisch und mystagogisch kenntnisreich durch. Ist es doch kein Zufall, dass gerade in biblischen Traditionen die Leidens- und Gewaltgeschichten eine zentrale Rolle spielen, christlich natürlich die Passion Jesu. Gerade durch seine Wunden ist er glaubhaft als Heiland, als Zeuge gottmenschlicher Empathie. Von solcher Passion zeugen Poesie und Mystik: „Wunden sind Augen.“ Der Würzburger Theologin gelingt es überzeugend, solche Perspektiven in Brennpunkten faktischer Verhältnisse auszubuchstabieren – in der Corona-Krise, im Feld kirchlichen Missbrauchs, im globalen Gewaltraum zwischen Krieg und Frieden. Die glänzenden Miniaturen, angereichert durch treffende Zitate aus Wissenschaft und Spiritualität, sind mit Gewinn einzeln zu lesen und bilden zugleich ein höchst empfehlenswertes Ganzes.