Das grosse Menschheitsthema
Schritt für
Schritt näher
Der Muslim und Schriftsteller Navid Kermani möchte seine Tochter erzählend zur Gottsuche inspirieren. Ein berührendes Buch – erst recht für Christen. von johannes röser
Interkulturelles Lernen soll den Horizont der eigenen Kultur erweitern. Wie aber steht es um das interreligiöse Lernen, zumal in einer Gesellschaft, die sich vom angestammten Christentum und seiner Praxis in großen Teilen entfernt? Und was bedeutet das für die Erziehung?
Da könnte das neue Buch des schiitischen Muslim und Schriftstellers Navid Kermani lehrreich sein. Denn er scheut sich nicht, aus der Überlieferung seines Glaubens heraus den Islam wirklich zu lehren. Das in der Weite eines Intellektuellen, der jedweden religiösen Provinzialismus hinter sich lässt, um die Gottesfrage als universale Frage der Menschheit abzutasten und seiner zwölfjährigen Tochter nahezubringen. Tag für Tag hat Kermani aufgrund der Fragen seiner Jüngsten, aber auch mit den eigenen Fragen ein neues Kapitel seines Buches geschrieben. Meditativ kreisend wird es ebenso ins Gespräch mit dem Leser gebracht. Das Bedürfnis, das Interesse, sich dieser ernsthaften Suchbewegung einer außerchristlichen Perspektive anzuschließen, scheint nicht gering zu sein. Denn das Werk stand über viele Wochen oben auf der „Spiegel“-Bestsellerliste.
Kermani buchstabiert seinen Glauben unter einem weiten Horizont. Stets greift er zur Bestätigung oder Erläuterung auf Suren des Koran in eigener Übersetzung und Deutung zurück. Häufig nimmt er Bezug auf biblische Texte, insbesondere die christliche Überlieferungsgeschichte, wobei vorrangig Jesus als prophetische Gestalt in den Blick kommt. Kermani möchte Zugänge zu Gott nicht dogmatisch, vielmehr über eine Art natürliche Religiosität erschließen, die sich aus dem Mysterium des Daseins nährt: aus dem Wunder, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, dass es das Universum gibt und dass jedes Individuum darin unvergleichlich einmalig ist. Die Unendlichkeit lässt den, der sich da denkerisch wie gefühlsmäßig über das Triviale hinaus vorwagt, erschaudern angesichts der unendlichen Vielfalt wie Einzigartigkeit in Natur, Raum und Zeit. Ewigkeit? Für den Verfasser bedeutet das nicht unaufhörliche Zeit, sondern Zeitlosigkeit.
So nähert sich die Frage nach Gott über immer neue Erfahrungen und „Wahrheiten“ voller Erkenntnis dem Mysterium aller Mysterien an, sei es über die Elementarteilchen, über die physikalischen Spekulationen eines Kosmos einzig aus Strings, abstrakt gedachten, in sich zusammengefalteten Energiefäden, oder über die – sexuelle – Liebe, Zeugung, Geburt und Tod. Gibt es Materie überhaupt, wenn sie im Kern gar nicht aus Materie besteht? Kermani kommt von unmittelbarer Anschauung, etwa der unerschöpflichen Vielfalt und Verschiedenheit von Kastanienblättern oder das Atmen, zum lebendig-schöpferischen Geist, zum Gottesgeist, zum Urgrund und Urvertrauen.
Alles ist – nicht nur literarisch – durchdrungen von Poesie, so der Dichter. Gott spreche selber wie ein großer Dichter. Unter anderem greift Kermani auf die Weisheit der Sufis zurück, der islamischen Mystiker, ebenso auf Wahrheiten und Ansichten anderer Glaubenstraditionen in anregender Verschiedenheit. Am stärksten ergreifen die Passagen über das Beten, über Gottesdienst, Feiern, Liturgie. Nicht das Predigen, nicht das Moralisieren, nicht einmal die gläubige Gemeinschaft steht für Kermani an erster Stelle, vielmehr die inwendige Versenkung. Er bedauert, dass die Predigt sowohl im Islam als auch im Christentum immer mehr an Bedeutung gewonnen habe. Doch diese mache noch keinen Gottesdienst aus, so sehr er selber als schreibender Mensch auf das Wort angewiesen sei. Kermani verweist lieber auf die östlichen Kirchen, in denen das Wort des Priesters oft „eine Nebensächlichkeit“ sei, „in zwei, drei Minuten abgehandelt“, während die göttliche Liturgie viele Stunden dauern kann. „Die übrige Zeit besteht sie aus Gesang und melodischen Rezitationen, aus der exakt einstudierten Choreographie der Mönche und einer Symphonie von Lichteinfällen, Glocken, Rasseln und Düften. Ich habe eine solche orthodoxe Liturgie einige Male erlebt, und obwohl ich naturgemäß kein einziges Wort verstand, hat sie mich tiefer berührt als ein gewöhnlicher Gottesdienst in Deutschland, ob im Dom oder in der Zentralmoschee – so tief im Gemüt, wo die Sprache nicht mehr hinreicht.“ Gottsuche braucht die Liturgie der Sinnlichkeit.
Anstößiges, Nicht-Sinnliches gehört für Kermani dazu. So bekennt er seinen Glauben an die Auferstehung als eine Plausibilität eigener, wenn auch in unserer Begrifflichkeit und Vorstellungskraft nicht fassbarer Art. Er erwähnt sogar das Kreuz, das Opfer. Es gehöre „zur Religion, seit es sie gibt“.
Kermani legt den Schwerpunkt jedoch auf die Schönheit, ohne das Dunkle, die Dunkelheit in Gott selbst, die Nacht des Zweifelns zu ignorieren. Die Theodizee-Problematik, die Rechtfertigung Gottes angesichts des unermesslichen Leids, einer unnachgiebig von Zerstörung heimgesuchten, fehlerträchtigen Evolution, taucht jedoch allenfalls am Rand auf. Der Mensch selbst ist nach Kermanis islamischem Verständnis der Schöpfungserzählung von Grund auf gut, nicht wie in der biblischen Überlieferung gleich mit Sünde, geradezu erbsündig behaftet. Der Mensch sei befähigt, aus eigener Kraft das Gute, Wahre und Richtige zu tun. Hier distanziert sich der Verfasser deutlich, wenn auch nicht schlüssig vom christlichen Seinsverständnis.
Das Rebellische der Religion – gegen Gott – möchte Kermani nicht leugnen, wobei er sich auf Hiob bezieht. Aber allzu aufrührerisch darf auch das nicht sein. Bei aller Klage habe Hiob doch Gott wiedergefunden. „Gott hat ihm verziehen und ihn reich entlohnt.“ So geht auch für Kermani alles im Grunde gut aus, umhegt vom grenzenlosen Gottvertrauen und Gottes Schönheit.
Dabei wird deutlich, dass dem Islam im Innersten allerdings doch eine Art „Kreuzesperspektive“ fehlt im Sinne des Leidens Gottes selbst, wobei erst aus der abgrundtiefen Erschütterung über diese Gewaltanschauung von Gott selber her die Erlösung von Sünde und Tod in sein Reich hinein erwartet werden kann. Kermani umkurvt da die letzte Radikalität. Trotzdem lässt er den Leser teilhaben an einer eigenen Situation voller Erschütterung und Verzweiflung, die ihn Zuflucht nehmen ließ zum Gebet. Nur das sei ihm da geblieben: „Sätze, die sich von selbst sprachen, von den Lippen unzähliger Menschen geformt und bereits in meiner Kindheit auswendig gelernt. Sie schenkten mir Kraft, sie machten mir Mut, sie riefen die Zuversicht zurück…“ Das Buch schließt mit einem „großen Vielleicht“: dass es Gott vielleicht doch gibt und dass er die Schöpfung, seine Schöpfung in Liebe, nicht allein lässt, sondern vollendet „am Tag der Auferstehung“, so Sure 6, Vers 12.
Navid Kermani beschämt uns. Mit seiner intensiven mystischen Gläubigkeit und seinem Willen, am Glauben seiner Vorväter und Vormütter festzuhalten und ihn seinen eigenen Kindern in großer Weite und Neugier weiterzugeben, beschämt er insbesondere uns Christen und Ex-Christen des Abendlands in unserer religiösen Nachlässigkeit, säkularen Gedankenlosigkeit und existentiellen Dürftigkeit wie Oberflächlichkeit. Ob Christ, Nichtchrist oder Nichtgläubiger: Erkenne dich selbst. Kermani könnte mit seiner muslimischen Ernsthaftigkeit, Freiheit und Weite dafür ein bester Spiegel sein.
„Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.“ Der Titel des Buches war laut Überlieferung der Spruch eines Platzanweisers an das Volk in einer völlig überfüllten Moschee. Die Menge wollte einen Scheich, den berühmtesten islamischen Mystiker des elften Jahrhunderts, predigen hören und war deshalb zusammengeströmt. Nach dem Wort des Platzanweisers habe der Scheich die Versammlung beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte, sich umgewandt und die Stadt verlassen mit den Worten: „Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten gesagt haben, hat der Platzanweiser bereits gesagt.“ Schritt für Schritt näher. So beginnt Gottsuche, ständig neu. CIG
navid kermani:
jeder soll von da, wo er ist, einen schritt näher kommen
Fragen nach Gott
Carl Hanser Verlag
München 2022
240 Seiten
22 €