"Das Virus und der liebe Gott"Bestes aus der Hausapotheke

Wie schlägt sich die Kirche in der Corona-Krise? Der Theologe Joachim Negel macht sich an eine schonungslose Abrechnung. von Gotthard Fuchs

Endlich eine wirklich theologische Stimme zu Corona: schonungslos und selbstkritisch in der Bestandsaufnahme kirchlicher Sprachlosigkeit und argumentativer Schwäche im eigenen Metier, unerbittlich aber auch in der Analyse einer bloß wissenschaftsgläubigen Wohlfühlgesellschaft, die den Tod verdrängt und entscheidenden Über-Lebensfragen aus dem Weg geht. Inzwischen scheint es fast ungehörig, angesichts realer „weltlicher“ Probleme wie Corona noch Gott ins Spiel zu bringen – als ginge es da ohnehin um eine bloße Zutat, über deren Sein oder Nichtsein man folgenlos spekulieren könnte. Aber das Gegenteil ist ja der Fall. Zur Debatte stehen Grund und Horizont von allem: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Und worauf ist, wenn überhaupt, angesichts der gigantischen Hinfälligkeit des Ganzen doch Verlass?

Im Stil einer therapeutischen Theologie stellt Negel – Fundamentaltheologe in Fribourg – nach kurzer Anamnese eine entschiedene Diagnose. Gegen „kirchliches Behauptungsgerede“ und „theologische Beschwichtigungsfloskeln“ wird die Lebenskraft christlicher Glaubensrede zugunsten des Eigenrechts der säkularen Welt herausgearbeitet: Gott als das großartig fremdnahe Gegen-Über, in allem und allem zuvor. Die Verbundenheit mit ihm ist Ermutigung zu Selbstwerdung und Weltgestaltung gerade aufgrund und dank ihrer endlichen Verfassung.

Die andere Front der Argumentation zielt auf „die Visionslosigkeit einer rein aufs Machbare fixierten pragmatischen Welt“. Derart transzendenzlos bleibt der Mensch im Spiegelsaal seines absoluten Ich, inmitten der überkomplexen Welt ständig zwischen Selbstüberschätzung und Selbsterschöpfung gerädert und entsprechend angstgefährdet und gewaltfähig, „bis zum Exzess hochgepushter Selfie-Kultur“. Die Welt ist diesem Menschen „auf das Mittelmaß einer gigantischen Benutzeroberfläche zusammengeschrumpft“. Dagegen sollte mindestens der Gedanke, dass ein (gar wohlwollendes) Gegen-Über zu Mensch und Welt denkbar sei, groß gemacht werden. Denn an die schöpferische Ankunft eines solchen Gottes in allen Dingen zu glauben, ermutigt zur Endlichkeit und setzt alle schöpferischen Energien frei, gerade angesichts und sogar dank des Todes. Grund und Maßstab dafür finden Christenmenschen bekanntlich im Fremd-Nahen aus Nazaret, im Geheimnis seiner ursprünglichen und bleibenden Gottverbundenheit.

Eigens gewürdigt sei deshalb, wie genau Negel mit einem verbreiteten Irrtum der jüngeren Zeit aufräumt – mit der These nämlich, dass die Theodizee, also die Frage nach Leid und Gewalt und einem guten Schöpfergott, die Mitte von Glaube und Theologie sei. Aber nicht erst Imre Kertész schrieb angesichts seiner Leiden in Auschwitz, ihn interessiere nicht mehr, woher das Böse komme, vielmehr beschäftige ihn die Frage nach dem Guten und seiner Herkunft. Im zweiten Teil seines Buches formuliert Negel „therapeutische Ratschläge“. Geschickt nimmt er Slogans der Corona-Krise auf (Social Distancing, Ansteckung, Maske, Lockdown), um im schöpferischen Kontrast dazu an „die kleinen Sakramente des Alltags“ zu erinnern, nicht zuletzt die Trostkraft des Gebetes in seiner ganzen Bandbreite von Dank bis Anklage. Hier schließt sich der Kreis zu der offenen Frage, wie denn spirituelle Praxis und kirchliche Realität noch besser so gestaltet werden könnten, dass sie sich für möglichst viele als so lebensdienlich und menschenfreundlich erweisen, wie dieses Buch es erschließt.

Entstanden ist ein ausgesprochen hilfreiches Werk, gut auch in Abschnitten zu lesen und mit vielen kostbaren Zitaten und Bezügen, kraftvoll in Darstellung und Argumentation, entschieden und fragend zugleich, dabei erfahrungsstark und lebensnah, und vor allem von österlicher Leidenschaft und spürbarer Zeitgenossenschaft geprägt. Kurzum: schlicht gute Theologie und seel- wie weltsorgende Spiritualität.

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