documenta fifteenDer indonesische Blick

Ein Eklat über judenfeindliche Motive hat die Eröffnung der Documenta überschattet. Doch die Kunstausstellung ist mehr als dieser Skandal.

Die Documenta erregt zu Recht öffentlich größte Aufmerksamkeit. Das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi überschreitet Grenzen. Grenzen müssen überschritten werden, um Umkehr und Neubeginn zu erreichen, das war das tägliche Brot Jesu; insofern darf kein Blatt vor den Mund nehmen, wer auf die Schöpfungsbewahrung und die gerechte Verteilung von Gütern hinweist (in der Ukraine warten mindestens 25 Millionen Tonnen an Weizen auf Weitertransport).

Grenzen dürfen aber nicht überschritten werden, wenn dies Diskriminierung, Rassismus und Gewalt beinhaltet. Daher wurde ein großformatiges Transparent des indonesischen Künstlerkollektivs auf dem Kasseler Friedrichsplatz zurecht abgehängt, weil antisemitische Motive Empörung ausgelöst hatten. Grenzziehungen in unserer einen Weltenfamilie werden immer schwerer.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kam nach Kassel und betonte in seiner Eröffnungsrede: „Ich sage gern nochmal: Kunst darf anstößig sein, sie soll Debatten auslösen. Mehr noch: Die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Kunst sind Wesenskern unserer Verfassung. Kritik an israelischer Politik ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten.“

Dass sich in Kassel auch die benediktinischen Leitwörter des „Ora et labora“ entdecken lassen, gehört zu den vielen Fundgruben der indonesischen Kuratoren. Nongkrong ist als indonesisches Leitwort häufig dann zu lesen, wenn es neudeutsch um das Chillen geht – man also abhängen, ausruhen, zur Ruhe kommen darf. In Anbetracht der unverhohlen gewollt zur Schau gestellten Kritik am Menschen, der unsere Schöpfung hemmungslos ausbeutet, ist es hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, dass nicht der homo sapiens die Krone der Schöpfung Gottes ist, sondern der Sabbat: Am siebten Tag schuf Gott bekanntlich den Tag der Ruhe, an dem er selbst seinen Ruhesitz in seiner Schöpfung bezog – Ikonen zeigen daher gern Gottvater in einer Krippe inmitten all des sehr gut Geschaffenen. Wenn sich jeder Mächtige, der sich heute über andere(s) erhebt, endlich einmal zur Ruhe setzen würde, sähe es wahrlich friedlicher aus. Nongkrong ist auch der passende Begriff für den betenden, kontemplativen Jesus von Nazareth, den die Menschen immer wieder bedrängen – der Erlöser und gute Hirt aber schreitet durch die Mengen hindurch, um Ruhe zu finden.

Lumbung ist als indonesisches Leitwort häufig dann zu lesen, wenn es um die gerechte Verteilung von Ideen, Ressourcen und Gütern geht. In einer dörflichen Reisscheune, dem Lumbung also, finden sich unsere indonesischen Geschwister zusammen, um zu klönen, gesellig zu sein – aber eben auch, um miteinander zu teilen: Gedanken, Besitz, Ernte. Solch ein Lumbung gehört in jeden Ort. Wider den Egoismus unserer Tage, wider jede Kriegstreiberei sollten sich Mitmenschen regelmäßig treffen, um all das, was in ihrem Einzugsgebiet wächst und gedeiht, gerecht zu verteilen. Nichts anderes ist die Aufgabe des am Sonntag, dem Auferstehungstag, gesegneten Menschen in der neuen Werkwoche.

Samstag und Sonntag, das Wochenende also, als Inbegriff für Nongkrong und Lumbung, für Ruhe und Teilung, für Kontemplation und Aktion: Zu schön, um wahr zu sein? In Indonesien klappt es gut.

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