Ingeborg-Bachmann-Preis 2022Von Kindern und Kröten

Nach spektakulären Urteilen in Deutschland und Amerika ist die alte Debatte über Schwangerschaftsabbrüche neu entflammt. Auch der Siegestext der Tage der deutschsprachigen Literatur dreht sich um die Frage, ob eine ungewollt schwangere Frau ihr Kind behält.

Nach Jahrzehnten der juristischen Grabenkämpfe geht es manchmal ganz schnell. Just in der Woche, in der der Bundestag das „Werbeverbot“ für Schwangerschaftsabbrüche aufgehoben hat, hat das Oberste Gericht der USA das „Recht auf Abtreibungen“ gekippt. In zehn Bundesstaaten ist der Eingriff bereits verboten, mehrere weitere werden folgen. Während konservative Gruppen das Urteil als Sieg für das Leben feiern, wächst ein Proteststurm quer durchs Land, dem sich auch mehrere einflussreiche Politiker, wie der ehemalige Präsident Barack Obama, angeschlossen haben. Ein Kampf, der seit langem unter der Oberfläche gebrodelt hat, wird wieder sehr offen geführt. Es scheint wieder Zeit für große Gesten und laute Stimmen. Das ist schade, denn dabei gehen die leiseren, nachdenklicheren Wortmeldungen manchmal unter.

Etwa die von Ana Marwan, die am vergangenen Sonntag bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt den Hauptpreis gewonnen hat. Ihr mal mehr, mal weniger deutlich autobiographisch erzählter Beitrag Wechselkröte handelt von einer Frau, die unerwartet schwanger wird. Trotz Verhütung, wohlgemerkt. Ein Detail, das inmitten der Abtreibungsdebatte sehr bewusst platziert wirkt. „Das ist echt ein Wunder“, sagt der Frauenarzt im Text. Für die Erzählerin ist es zuallererst ein Schock – doch dann beginnt sie, sich ihren Alltag mit dem Kind vorzustellen. „Ich stelle mir vor, es ist vier … Es ist schüchtern, es nimmt meinen Rock wie einen Vorhang und taucht sein Gesicht hinein. Es fühlt sich sicher.“ In groben Zügen und alltäglichen Situationen zeichnet Marwan ein ganzes Leben von den ersten Schritten bis zu Besuchen im Seniorenheim, bei denen sich die Beziehung umzudrehen scheint. „Es ist sechzig und redet mit mir wie mit einem Kind.“

Neben diesem nachdenklichen Tagtraum gibt es noch einen zweiten Erzählstrang: Die Frau hat eine seltene Krötenart – die titelgebende Wechselkröte – aus ihrem Gartenpool gerettet, um sie in der freien Natur auszusetzen. Dieses kleine hilflose Stück Leben scheint der Erzählerin dabei viel realer und näher als das Kind, das in ihrem Inneren heranwächst. Vielleicht auch nur, weil sie es in der Hand halten kann. Die Kröte „ist so weich, dass sie Zärtlichkeit in mir hervorruft. Ich kann sie nicht anders als sanft halten.“ Als sie sich nach einer kurzen Autofahrt wieder von dem Tier trennt, macht sie noch eine Erfahrung, die vielen Eltern bekannt vorkommen dürfte: „Ich setze mich auf das Moos und lasse die Kröte frei. Sie scheint mir glücklich, aber nicht dankbar zu sein.“ Dann ist das Tier wieder in sein eigenes Leben verschwunden und lässt die Erzählerin mit einem seltsamen Gefühl der Leere zurück.

Ob die Frau ihr Kind am Ende behält, bleibt im Text offen. So offen, dass die Preisrichter bei ihrer Diskussion zu unterschiedlichen Deutungen kamen. „Dass ein Text viele Interpretationen eröffnet, die sich teilweise auch widersprechen, kann ein Qualitätsmerkmal von Literatur sein“, betonte Juror Klaus Kastberger. Jeder kann den Text auf seine Art verstehen und genau das mitnehmen, was gerade in die aktuelle Lebenssituation passt. Jeder Standpunkt hat seine ganz eigene Berechtigung. Vielleicht lohnt es sich allein dafür, ab und an Literatur zu lesen statt nur die immer eindeutigen Gesetzestexte, die in Deutschland und Amerika die Gemüter erhitzen.

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