Ich selbsten kann und mag nicht ruhn:/Des großen Gottes großes Tun/Erweckt mir alle Sinnen.“ Ja, der gestrige Sommerabend in den Rheingauer Wäldern und Weinbergen nötigt mich förmlich, meinen geplanten anderen Text zurückzustellen. Natürlich gibt es Themen genug: Der Ukrainekrieg ist mir präsent, ich weiß um die Wassernot und das aufgewühlte Klima. Aber alles steht gerade im Bann dieser Farben und Lichtspiele, dieser Tiefe des Blicks weit hinein in den Odenwald und Hunsrück und Donnersberg. „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ – wohl kein Kirchenlied hat so zur Naturbetrachtung aufgefordert wie dieses von Paul Gerhardt (1607–1676). Aber auch für ihn schon ist es unmöglich geworden, „auf dieser armen Erden“ eins zu eins im Buch der Natur zu lesen. Der Dreißigjährige Krieg war ja eine Katastrophe unfassbaren Ausmaßes, und biografische Tiefschläge gab es genug, um von „diesem Leibes-Joch“ zu sprechen. Aber die Wucht der sommerlichen Natur nötigt zum Staunen.
Wandern die Blicke in den ersten acht Strophen dieses Sommer-Gesangs lustvoll im Garten der Natur herum, so fängt mit den folgenden vier ausdrücklich das Nach-Sinnen an: Wie wird das erst in der wahren Welt sein, in der vollends versöhnten? „Welch hohe Lust, welch heller Schein/Wird wohl in Christi Garten sein?“ Was im Hier und Jetzt glücklich aufscheint, wird zum paradiesischen Inbild des Kommenden: Nicht nur grünen soll alles, sondern „gülden“ werden. Entsprechend werden die letzten der insgesamt 15 Strophen zu dringlichen Bitten: „Hilf nur und segne meinen Geist/Mit Segen der vom Himmel fleußt,/Dass ich Dir ständig blühe“.
Es gehe um mein Herz, das da „ausgehen“ und „Freude suchen“ soll – nur an solche Selbstvergewisserung dachte ich bisher, ich als Angehöriger einer narzisstischen Lebenswelt, die bei Spiritualität erstmal an Selbstverwirklichung denkt. Aber Paul Gerhardt hat wohl zuerst ganz konkret seine trauernde, womöglich gar depressive Frau Anna Maria im Sinn. Leicht war ihr Leben nicht, von ihren fünf Kinder sind vier früh gestorben. Angesichts solcher Verluste möge ihr das Schöne in der Natur zum Trost werden, zum Vorschein des Paradieses gar, das keineswegs ganz verloren, im Gegenteil wirklich im Kommen ist. Der Ehemann und Vater dichtet für seine Frau und seine Kinder, „mir und dir“ möge das Herz aufgehen.
Text und Melodie dieses Sommer-Gesangs können, inwendig gelernt, selbst in trostlosen Zeiten noch helfen, noch in ironischer Brechung und trauriger Gegen-Lesung. „Robert Gernhardt liest Paul Gerhardt während der Chemotherapie“ – unter dieser Überschrift beginnt der todkranke Dichter: „Geh aus mein Herz und suche Leid/in dieser lieben Sommerzeit…“ Nichts von Lob und Trost: „Die Bäume stehen voller Laub./Noch bin ich Fleisch, wann werd ich Staub?“ Nicht Lob der Schöpfung, sondern Klage bis zur letzten Strophe: „Ich selber möchte nichts als ruhn./Des großen Gottes großes Tun/ist für mich schlicht Getue./Ich schweige still, wo alles singt/und lasse ihn, da Zorn nichts bringt,/nun meinerseits in Ruhe.“
Ja, es gilt, sich – und anderen – einen Reim zu machen auf das Leben, und diesen Sommer.