Hans Joas: "Warum Kirche? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft"Zerbrechliche Gefäße für den großen Schatz

Der Soziologe Hans Joas inspiriert, weil er dem Christentum mehr zutraut und eine Verjüngung für möglich hält.

Manchmal lohnt es sich, das Spektakuläre im Alltäglichen zu sehen. So ist es beileibe nicht trivial, dass eine ursprünglich winzige, jüdisch-antike Bewegung um den Wanderprediger und Heiler Jeschua aus Nazareth in der Gegenwart rund 2,5 Milliarden Christen umfasst. Der „neue Weg“ (vgl. Apg 9,2) verlor sich in den Wirren der Spätantike genauso wenig wie in den Krisen des langen Mittelalters, auch nicht in den emanzipatorischen Aufbrüchen der Neuzeit oder in den Rasereien und Entfremdungen der Moderne. Hans Joas, der 1948 geborene Soziologe und Gelehrte, der seit Jahrzehnten durch einen unabhängigen Blick auf gesellschaftliche und kirchliche Umbrüche besticht, sprach in einem 2015 gehaltenen Vortrag von seiner Faszination über die Tatsache, „dass es die Kirche überhaupt gibt – als eine Gemeinschaft oder Institution neben dem Staat mit einer unerhörten, um nicht zu sagen mirakulösen Kontinuität“.

Ein solches Geständnis führt ihn in Warum Kirche? weder zu einer Verherrlichung von „Mutter Kirche“ noch zu der gern gepflegten Kritik an der Institution, die ihre Dynamik zumeist aus der Kontrastierung althergebrachter Traditionen und der Errungenschaften der Moderne bezieht. Joas’ Sammelband ist vielmehr von vielfältigen Variationen über die Titelfrage getragen.

Schon das „Warum“ ist beachtenswert. Es ist eben keine soziologische „Wozu ist die Kirche gut?“-Studie, die die Vorteile einer Mitgliedschaft für den Einzelnen erörtert oder die Effekte einer stabilen Institution auf die Gesellschaft auslotet. Der Autor geht weiter: „Denn eines scheint mir völlig klar: Was auch immer bei diesen Forschungen herauskommt, selbst der schönste Beweis von der Nützlichkeit des Glaubens kann eines nicht erreichen: Er kann nicht zum Glauben führen.“

Folgerichtig nimmt Joas im Aufsatz „Braucht der Mensch Religion?“ eben nicht den Nutzen in den Blick, vielmehr „Erfahrungen der Selbsttranszendenz“. Das klingt elitär, dabei sind Erfahrungen des Überschreitens und Ergriffenseins etwas Alltägliches. Wer ein Gespräch führt, das sich von Belanglosigkeiten und dem Austausch von Informationen löst, in dem sich – durchaus unerwartet – Begegnung ereignet, der wird bereichert, verwandelt, ja erlöst. Wer sich „im Zeichen der Nächstenliebe“ selbst überwindet und verschenkt, kann erschüttert werden, das Eingespielte des Alltags hinter sich lassen. Solche Erfahrungen sind nicht harmlos, können gar in ihrer jeweiligen „Schreckensversion“ auftreten, die uns dann vor allem die Brüchigkeit unserer Existenz vorführt. Wesentlich ist aber eben, dass sich Erfahrungen der „Selbsttranszendenz“ dem Nützlichkeitskalkül entziehen: „Wir machen sie schlicht – ein Leben ohne sie ist nicht denkbar, selbst wenn wir alles menschengemachte Unheil überwinden könnten.“

Das Ergriffensein und die Selbstüberschreitung bilden Brücken zur Sinnfrage, zur Metaphysik, zu Gott.

Ihre Deutung kann freilich auch rein psychologisch oder explizit nichtreligiös ausfallen. Joas verweist auf die Konversion des Schriftstellers Alfred Döblin zur katholischen Kirche, die bei vielen Weggefährten ein großes Unbehagen auslöste, ja skandalisiert wurde. Während Döblin bei seiner Geburtstagsfeier im August 1943 im kalifornischen Santa Monica seinen Weg zum Glauben – es war ein Kreuzweg! – offenbarte, beeilten sich Thomas Mann und Bertolt Brecht, „peinlich berührt“, Döblin Schwäche und Kapitulation angesichts der Herausforderungen der Zeit zu unterstellen. Das eigene religiöse Erleben und seine Artikulation müssen die Mitmenschen nicht überzeugen; der berühmte „Sprung in den Glauben“ geschieht stets individuell. Das ist beim Sprung in die Liebe auch nicht anders.

In diesem Zusammenhang sind die Anmerkungen des Soziologen zu der einflussreichen These von der Säkularisierung weiterführend. Diese Rede möchte nicht lediglich auf die – zumindest in Europa – unbestreitbare und nachhaltige Schwächung des religiösen Lebens verweisen. Sondern sie geht auch davon aus, dass die umfassende Modernisierung fast schon kausal zu einer „Verweltlichung“ führe. Joas erscheint diese Verknüpfung zu simpel. Wie er an handfesten Beispielen aufzeigt, müssen Positionierungen der Kirchen zur „sozialen Frage“, zu Staat und Nation, zur Frauenemanzipation oder auch zur Migration stets mitbedacht werden. Dann erkennt man, dass es vielfältige Abhängigkeiten, aber kaum „Notwendigkeiten“ gibt. Sind Glaubensgemeinschaften geistreich, bleiben sie jung und tatsächlich am Individuum, nicht an Macht und Staatsnähe orientiert, dann ist ihre Zerrüttung keinesfalls vorprogrammiert. Vielmehr sind überraschende Revitalisierungen möglich. Denn „die Hinwendung zu und die Abwendung von bestimmten Religionen und auch säkularen Weltanschauungen und Wertsystemen geschieht meist nicht aufgrund einzelner Glaubenssätze, sondern über ganzheitliche Identifikation“.

Sind Glaubensgemeinschaften geistreich, bleiben sie jung und tatsächlich am Individuum, nicht an Macht und Staatsnähe orientiert, dann ist ihre Zerrüttung keinesfalls vorprogrammiert. Vielmehr sind überraschende Revitalisierungen möglich.

Auch den wirkmächtigen Begriff Entzauberung des Soziologen Max Weber (1864–1920) mag Joas nicht unbesehen übernehmen. Der Kampf der biblischen Propheten oder auch des Reformators Calvin gegen eine magische Weltauffassung führte ja ganz und gar nicht zu einem Verzicht auf das Heilige: er war ein gutes Stück – religiöser – Aufklärung. Und die populäre Ansicht, dass der Fortschritt der Wissenschaften die Religionen unglaubwürdig mache, gründet in einer sehr engen Sicht der Glaubenslehren, denen man bei der Begegnung mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis keine Entwicklungsmöglichkeiten zugesteht. Hans Joas warnt somit auch vor allzu gewissen „Vorhersagen“ und verdeckten „Geschichtsphilosophien“. Die Tatsachen der zunehmenden Verweltlichung des Lebens seien illusionslos anzuerkennen. Das bedeute aber nicht, auf einen „historischen und globalen Rahmen“ zu verzichten, der Großerzählung von der unaufhaltsamen Säkularisierung unkritisch zu folgen. „Die Zukunft, auch die der Kirchen und der Religion, hängt nämlich wesentlich auch vom bewussten menschlichen Handeln ab.“

„Ist Transzendenz organisierbar?“ In diesem Aufsatz kann man das Herzstück des Bandes sehen. Joas antwortet einerseits mit „Ja“, denn Ideale und Werte könnten von Individuen allein, ohne eine Organisation, auf Dauer nicht bewahrt werden. Er fügt andererseits sogleich auch ein „Nein“ an, denn Transzendenz „übersteigt jede bestimmte Organisation“. Man ist damit sogleich an die wunderbare paulinische Metapher vom Schatz erinnert, der in zerbrechlichen Gefäßen getragen wird (vgl. 2 Kor 4,7). Will man es überhaupt wagen, das je Größere, das Göttliche, in eine irdische Form zu gießen, dann müssen Wagnis und Demut, Kühnheit wie Selbstkritik zusammenkommen.

Joas verweist auf Max Weber wie auf den protestantischen Theologen Ernst Troeltsch (1865–1923), die die Organisationsform „Kirche“ mit „Sekte“, aber auch mit Gemeinschaften verglichen, die sich um das „mystische“ Erleben zentrieren. Jede der Formen besitzt spezifische Stärken, die in den anderen nicht zu finden sind. So werde in Zusammenschlüssen mit kleinen Mitgliederzahlen – Sekten – häufig ein sehr bewusstes, striktes Christsein praktiziert, während in großen Gemeinschaften die Zahl der Mitläufer erheblich ist. Andererseits vermögen die großen Gemeinschaften – Kirchen – eine große Bandbreite an Berufungen und Begabungen zu integrieren, die kleine Gemeinschaften sprengen würden. Ähnliches gilt für „mystische“ Gruppierungen, die das spirituelle Erleben, den Glutkern des Religiösen, betonen, die aber nicht selten bereits bei der Weitergabe ihrer Ideale an die folgende Generation scheitern. Solche Gewinne und Verluste sind der jeweiligen Organisationsform eigen. Die Güter, die im Christentum zu bewahren sind und die Joas letztlich mit einer dem Evangelium gemäßen „Transzendenz“ und mit „moralischer Universalismus“ benennt, bleiben so kostbar wie fragil. „Die Kirche soll also als Genossenschaft der Gläubigen gedacht werden, die hierarchischer Strukturen bedarf, um gegenüber der Machteinwirkung von außen ihre Handlungsfähigkeit im Sinne ihrer Ideale zu gewährleisten.“

Die zehn gelehrten Aufsätze in Warum Kirche? folgen keiner Mode und keiner Partei. Genau deswegen sind sie wohl so inspirierend. Joas’ Überlegungen ermutigen in schwierigen Zeiten, weil sie der christlichen Botschaft und ihrer krisenanfälligen Organisationsform „Kirche“ mehr zutrauen – weil sie tatsächlich den Schatz in den irdischen Gefäßen nicht übersehen. In den Worten des Soziologen: „Man kann die dreihundertjährige Geschichte der Schwächung des Christentums in Europa … auch als Geschichte immer wieder partiell gelungener Verjüngung lesen, als Anlass, die Vitalität des Christentums auch hierzulande und die unleugbare Aktualität seiner Botschaft und seiner liturgischen und diakonischen Praxis nicht zu unterschätzen.“

HANS JOAS: WARUM KIRCHE? Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft. Herder, Freiburg 2022, 240 Seiten, 22 €

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