CHRIST IN DER GEGENWART: Sie waren schon Landwirt, Rockmusiker und Rettungssanitäter. Dann sind Sie katholischer Priester geworden. Wie ist es dazu gekommen?
Wolfgang Metz: Ursprünglich hätte ich ja unseren Bauernhof übernehmen sollen, habe aber schnell gemerkt, dass die landwirtschaftliche Lehre nichts für mich ist. Damals war ich schon in der katholischen Landjugend aktiv und hatte einige gute Erfahrungen und Verbindungspunkte zur Kirche, und so habe ich beschlossen, mein Abitur nachzumachen und Theologie zu studieren, um Pastoralreferent zu werden. Es stand für mich damals aber nicht zur Debatte, Priester zu werden – Amt, Zölibat, das muss ja nicht sein. Im dritten/vierten Semester kam dann bei mir plötzlich die Frage auf: Warum denn eigentlich nicht?
Das war ein Punkt, an dem ich ziemlich Angst vor mir selbst hatte. Da war es gut, dass ich genau zu diesem Zeitpunkt ins Ausland gegangen bin und mir so klarer darüber werden konnte. Danach bin ich ins Seminar – und es war immer gut. Ich hatte dort einen tollen, ignatianisch geprägten Spiritual. Unser erstes Gespräch rechne ich ihm bis heute hoch an, denn er hat mir von Anfang an eine große Freiheit gelassen. Er hat zu mir gesagt: „Wissen Sie was? Das Ziel meiner geistlichen Begleitung ist nicht, dass Sie am Ende Priester werden, sondern dass Sie das finden, wo der liebe Gott Sie hinbegleitet, und dass Sie darauf basierend Ihre Entscheidung treffen.“
Woher kam die Idee zu Ihrem aktuellen Buch „Notwendige Unruhe: Über Kirche, Sexualität und Freiheit“?
Ich war an einem Wochenende auf dem Nachtreffen meines Exerzitien-Kurses. Die Gruppe dort ist ein großes Sammelsurium von unterschiedlichsten Menschen aus dem kirchlichen Milieu, da gibt es auch einen zur altkatholischen Kirche Übergetretenen, einen Transmann und eine lesbische Pastoralreferentin. Bei dem Treffen haben wir uns darüber ausgetauscht, wie es uns gerade geht, und einige haben erzählt, wie sehr sie mit den kirchlichen Themen ringen. Dann bin ich nach Hause gefahren und plötzlich kam bei mir der Gedanke: Darüber will ich etwas bei Instagram schreiben, und das habe ich dann auch getan.
„Ich bin es so leid, mir im Beichtstuhl private Dinge aus dem Bereich der Sexualität anzuhören und gleichzeitig miterleben zu müssen, wie sich Menschen dabei kasteien und schämen ... Ich denke, nein, bin davon überzeugt, dass Gott nichts Falsches daran sieht und sich diese Menschen ihr Leben nur schwermachen, weil wir (die Kirche) ihnen diesen Mist eingetrichtert haben, dass Sex vor der Ehe, Masturbation oder alles außer Heterosexualität böse ist.“ Mit diesem ersten Statement kam das Thema dann ins Laufen.
Wie waren damals die Reaktionen?
Es kamen sehr viele Rückmeldungen und der Post wurde auch in einem Kommentar auf katholisch.de aufgegriffen. Danach habe ich bei Instagram immer wieder Texte zu diesem, aber auch zu anderen Themen gepostet, etwa Gedanken zum jeweiligen Sonntagsevangelium. Irgendwann habe ich mich dann bei meinem Lektor gemeldet: Ich hätte da einige Texte zu verschiedensten Themen, die jedoch ein paar Grundlinien haben – Kirche, Sexualität und Freiheit. Und so ist das Buch entstanden.
Denken Sie, die vielen Rückmeldungen hängen auch damit zusammen, dass gerade ein Priester über das Thema Sexualität schreibt?
Das ist gut möglich. Einerseits liegt es mir fern, Privates an die große Glocke zu hängen. Aber andererseits müssen wir die toxische Atmosphäre benennen, die wir als Kirche produzieren – früher, weil wir gesagt haben, es ist alles böse, und heute, weil wir einfach nicht darüber reden und die Menschen so mit ihren Schuldgefühlen alleine lassen. Ich bekomme gerade von Priestern oft die Rückmeldung, wie froh sie sind, dass endlich mal jemand darüber redet. Aus der Rückmeldung eines Mitbruders und dem anschließenden Austausch ist sogar eine gute Freundschaft entstanden.
Was bedeutet dieser Gesprächsmangel beispielsweise für die Priesterausbildung?
Es gab in meiner Seminarausbildung zwar Einheiten zur Reflexion über die eigene Sexualität. Aber mir ging es damals so, dass die eigenen Kurskollegen nicht unbedingt die Menschen waren, mit denen ich darüber sprechen wollte oder konnte. Und auch im forum internum, dem Teil der Ausbildung, der der persönlichen Glaubensreifung dient, findet man nicht automatisch die passende Person dafür.
Es bleibt die Frage, wie man jungen Männern in der Priesterausbildung einen sicheren Rahmen bieten kann, in dem sie sich mit ihrer eigenen Sexualität auseinandersetzen können – entweder untereinander oder mit der Leitung oder mit irgendjemand anderem. Priester haben viel zu wenige Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, mit denen sie offen sprechen können, ohne verurteilt zu werden. Dabei ist gerade dieser urteilsfreie Austausch die Grundlage jeder geistlichen Begleitung. Wenn jemand zu mir kommt und mir etwas erzählt, dann geht es nicht darum, dass ich es werte. Meine Rolle ist zu spiegeln: Was nehme ich wahr? Mit welchen Fragen kann ich die Perspektive weiten? Und nicht zu urteilen: Das ist schlecht, das darfst du nicht! Damit führt man die Menschen nicht in die Freiheit – ganz im Gegenteil!
Freiheit gehört zum Kern der christlichen Botschaft. Wie kann die Kirche das wieder besser vermitteln?
Beim Glauben, in der Gottesbeziehung, im Denken, Handeln, Fühlen, Lieben und bei den Sakramenten geht es immer darum, dass ich mich in Freiheit dafür entscheiden kann. Vor allem die Sakramente sind keine Fleißkärtchen. Wir bekommen sie nicht zur Belohnung, sondern als Bestärkung. Es gibt Menschen, die fordern geradezu ein, dass der Priester ihnen sagt, was sie zu tun haben. Für mich lautet die Frage aber immer: Wie kann ich den Menschen helfen, in Freiheit zu leben und freie Entscheidungen zu treffen – und nicht ihnen zu sagen, was richtig und falsch ist.
Wenn ich beispielsweise einen Gottesdienst bei einer Hochzeit feiere, an dem viele Protestanten mitfeiern, dann weise ich vor der Kommunion darauf hin, dass es nicht mein Job ist, Leute auszuladen – aber auch nicht, pauschal alle einzuladen. Meine Aufgabe ist bestenfalls, Menschen in aller Freiheit entscheidungsfähig zu machen. Denn was uns trennt, ist oft nicht die Konfession, sondern was wir an verschiedenen Stellen glauben und hoffen und wie sich das ausformt. Und für mich ist völlig klar: Jeder hier, der glaubt, dass Christus wahrhaft in Brot und Wein unter uns ist, ist natürlich auch eingeladen. Deshalb ist es die freie Entscheidung der Besucher, ob sie dann zur Kommunion gehen oder nicht. Bei dem, was wir feiern, geht es nicht darum, dass wir alle die richtigen Antworten kennen und uns an den richtigen Stellen hinknien, sondern es geht darum, dass sich die Anwesenden wohlfühlen und in aller Freiheit mitfeiern können, so wie es ihnen guttut. Das Gegenteil dazu wäre eine total abgeschlossene Gemeinschaft der Eingeweihten. Unser Auftrag ist, das Evangelium allen zu verkünden und es so zu verkünden, dass jeder die Freiheit hat, es anzunehmen oder eben auch nicht.
Das versuche ich auch in der Erziehung unserer Kinder umzusetzen. Ich mache ihnen religiöse Angebote und muss auch akzeptieren, wenn sie das nicht wollen.
Und es ist nicht pauschalisierbar. Es ist immer personenabhängig – wie ich als Person lebe, hoffe, glaube und liebe. Kürzlich hat ein guter Freund von mir sein Priesteramt aufgegeben, und ich habe zu ihm gesagt: Wir stehen jetzt völlig diametral an unterschiedlichen Orten. Du musst jetzt als Priester gehen, weil du die große Freiheit suchst, weil du dich total eingeengt fühlst in dieser Kirche und du so nicht mehr weitermachen kannst. Ich wiederum bin Priester geworden, weil ich diese Freiheit gefunden habe und ich dort der sein kann, der ich bin. Es gibt kein pauschales Falsch und Richtig, und das muss man als Religionsgemeinschaft auch aushalten können. Das Bedürfnis ist natürlich hoch, zu sagen: Hier ist die Wahrheit.
Aber dann geraten wir in das Fahrwasser von Sekten, in den Fundamentalismus.
Absolut. Auch wenn das nicht heißt, dass bei uns alles egal ist. Anything goes – das stimmt ja auch nicht!
Sondern es braucht die Verbindung von Freiheit und Verantwortung?
Genau. Es gibt Menschen, die sagen, die Kirche sollte in Sachen Sexualität einfach mal die Klappe halten. Das glaube ich nicht, denn wir hätten eigentlich viel zu sagen, was Persönlichkeitsentwicklung, Körperwahrnehmung, Kommunikationsfähigkeit, Treue, Vertrauen und Verantwortung füreinander angeht. Das sind hohe Werte, die alle aus unserem christlichen Glauben und aus unserer Frohen Botschaft heraus zu erklären und zu vermitteln sind. Aber die Zeiten sind vorbei, undifferenziert zu sagen: Das ist gut und das ist schlecht und das dürft ihr und das nicht.
Aber wie kommt die Kirche aus dieser verfahrenen Verbotsrhetorik heraus?
Ich glaube, der Schlüssel für eine Erneuerung der Kirche und ihrer Lehre ist das Zuhören – frei nach dem Beginn der Benediktsregel: Höre! In meinem Büro hängt ein Bild mit einem Spruch aus dem Alten Testament: „Sei stets bereit zu hören, aber bedächtig bei der Antwort“ (Sir 5,11). Das ist die Priorität, und dann schauen wir, was wir daraus machen.
Was bedeutet für Sie „katholisch“?
Die Grundbedeutung des Wortes ist ja eigentlich „allumfassend“. Es geht beim Katholischen also um eine freiheitliche Botschaft, die für alle Menschen da ist und die alle angehen kann. Da gibt es allerdings die Schwierigkeit mit den verschiedenen Konfessionen. Ich bin weit davon entfernt, zu sagen: Die anderen sind schlechter und wir haben das Heil – wie das Jahrhunderte der Fall war und teilweise immer noch in uns steckt. Wir haben schließlich eine große Vielfalt im Christentum. Ein alter Freund aus den USA war gerade bei mir zu Besuch und er ist antiochenisch-orthodoxer Christ. Da bemerken wir in den Gesprächen durchaus Grenzen, aber das ist kein großes Problem, denn es gibt etwas viel Grundlegenderes, das uns verbindet: das Gebet. Und selbstverständlich haben wir dann auch bei seinem Besuch gemeinsam gebetet.
Das Katholischsein ist natürlich auch sehr geprägt durch Liturgie, die Eucharistie und das Sakramentsverständnis. Aber die Frage ist immer: Ist das auch in der Praxis das Zentrale? Für viele ist es der Mittelpunkt, aber für viele eben auch nicht und sie sagen trotzdem, dass sie katholisch sind. Wir sind im besten Sinne ein Sammelpunkt: Den Menschen, die zu uns kommen, können wir etwas Gutes tun, wir können mit ihnen feiern und sie begleiten. Es ist nicht an uns, zu kontrollieren, wie jemand sein Katholischsein definiert.
Wie erleben Sie das in Ihrer Hochschulgemeinde?
In der hiesigen Hochschularbeit erlebe ich – Gott sei Dank – eine große Vielfalt, die im besten Sinne katholisch ist. Ich habe dort zum Beispiel einen Studenten, der katholisch werden will, weil ihn bei uns die Liturgie mehr anspricht. Das ist keine Wertung, sondern etwas Persönliches. Ich möchte mit ihm trotzdem noch ein paar Gespräche über Liturgie und Kirchengeschichte führen, um ihn in eine größere Weite zu führen und ihn so entscheidungsfähiger zu machen. Früher hätte ich Katholischsein noch fester umrissen, aber ich glaube, dass unsere Konfession – was die Frohe Botschaft und Christusbeziehung angeht – viele Anteile hat, die für jeden christlichen Glauben gelten. Es ist lediglich eine bestimmte Verfasstheit der Institution und der Liturgie. Was das dann genau heißt, kann und darf ich vielleicht gar nicht definieren.
Natürlich könnte ich auch sagen: Bitteschön, hier ist der Katechismus. Aber das wäre nicht die Antwort auf das, was für mich persönlich Katholischsein ausmacht. Für manche mag das, was im Katechismus steht, eine Art Leitplanke sein, ein Geländer, das mir eine Richtung geben kann. Aber wenn jemand das nicht braucht, dann ist das auch o.k.
Wenn für die katholische Kirche die Eucharistie so wichtig ist, warum klammert man sich dann an Dogmen und Vorschriften, die den Zugang erschweren? Warum sagt man dann nicht: Die Eucharistie ist uns so wichtig, dass es uns egal ist, ob sie ein Mann oder eine Frau spendet?
Genau das hat ein früherer Professor von mir in Tübingen auch gesagt: Die Menschen haben ein Recht auf die Sakramente, und wenn wir sie nicht mehr ordentlich oder genügend spenden können, weil die Amtszugänge so eingeschränkt sind, dann ist es unser Problem und darf nicht zum Problem der Menschen werden. Wir müssen das dann ändern, damit wieder genügend Menschen die Eucharistie feiern können. Ich glaube, in diese Richtung sollte man weiterdenken und nicht sagen: Das war schon immer so, es darf nicht anders sein. Viele Katholikinnen und Katholiken glauben, dieses und jenes muss man erhalten, weil es schon immer so war, obwohl es vielleicht erst 150 Jahre alt ist. Vieles, was uns heute als Wesensbestandteil der Kirche erscheint, ist maßgeblich vom 19. Jahrhundert geprägt.
Es hat etwas sehr Befreiendes, sich einzugestehen: Kirche hat sich immer verändert. Die Form von Kirche hat sich immer verändert. Auch die Sakramente sind nicht so vom Himmel gefallen. Das heißt nicht, dass man alle 50 Jahre alles vom Tisch fegt und neu anfängt. Tradition ist auch ein wichtiges Gut. Vieles ist in der Tradition gewachsen, das hilfreich und gut ist, aber die Frage ist auch: Was braucht man heute noch? Was hilft noch?
In fünf Worten: Was ist Ihre Vision von Kirche?
Zugewandt, liebevoll, frei, christozentrisch und offen.
Sie sind ein ausgesprochener Italienkenner. Haben Sie ein paar Urlaubstipps für unsere Leserinnen und Leser?
Erstens: Rom ist immer eine Reise wert! Ich finde diese Mischung aus Antikem, Kirchlichem und Modernem, das an jeder Ecke aufeinandertrifft, sehr faszinierend. Da kann jeder etwas für sich finden – und man kann obendrein noch gut essen und trinken.
Zweitens: Ich bin und bleibe ein großer Fan von Assisi. Das ist ein wichtiger geistlicher Ort.
Und drittens ein kleiner Geheimtipp: Wenn jemand einen Rückzugsort in schönem Ambiente sucht, dann empfehle ich das Kloster Camaldoli. Das ist in der Südtoskana und liegt auf dem Franziskusweg, auf der Route zwischen Florenz und Laverna, inmitten von Laubwäldern. Die Camaldolenzer sind ein Reformorden der Benediktiner und die Brüder feiern eine wunderschöne Liturgie und singen toll – und ganz nebenbei wird dort auch noch guter Hochprozentiger gebrannt.
„Es hat etwas sehr Befreiendes, sich einzugestehen: Kirche hat sich immer verändert. Das heißt nicht, dass man alle 50 Jahre alles vom Tisch fegt und neu anfängt. Aber die Frage ist: Was braucht man heute noch? Was hilft noch?“