Nicht nur Hamburg trug Trauer. Weithin war zu spüren, dass „einer von uns“ gegangen war. Einer, dessen Lebensmotto lautete: „Das Schönste auf der Welt ist es, normal zu sein.“ Uns Uwe ist tot.
Am 31. Juli 1966, vor genau 56 Jahren, kehrte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft von der Weltmeisterschaft in England zurück. Deutschland hatte das Endspiel 2:4 verloren. Das Wembleytor war ein Skandal, aber der Mannschaftskapitän sorgte für Zusammenhalt, Anstand und das authentische Bild eines fairen Verlierers – inklusive Handschlag für Schieds- und Linienrichter.
Genau deshalb feierten auf dem Frankfurter Römerberg Zigtausende das deutsche Team. Aber sie riefen nicht „Deutschland, Deutschland“, sondern sie skandierten den Namen ihres Lieblingsspielers: „Uwe, Uwe.“ Wer da noch auf dem Teppich bleibt und nicht abhebt (sich auch nicht des Ruhmes wegen in Skandale, Drogen oder Affären stürzt), verdient es wahrlich, am 21. Juli in der Tagesschau die erste Meldung zu sein.
Uwe Seeler verkörperte Werte, die in ihrer Gesamtheit der Traum eines jeden Pädagogen sind: Treue (auch in Ehe und Familie), Bodenständigkeit (auch als er den berühmten Koffer mit Bargeld aus Mailand ausschlug), Selbstdisziplin (als er sich nach dem Riss der Achillessehne im Februar 1965 zurückkämpfte und mit blutiger Fußbandage spielte), Teamgeist (wer von uns, Hand aufs Herz, hätte dem Linienrichter im Wembleystadion die Hand gereicht?), Lokalpatriotismus (als Kind zwischen den Eppendorfer Häusern kickend, als Hamburger Ehrenbürger an der Elbe verstorben, die HSV-Raute als lebenslanges Attribut), Arbeitsmoral (als Handelsvertreter von Adidas mit hart erarbeitetem Geld), Volksnähe (ohne je ein Autogramm auszuschlagen oder sich einem Fan zu entziehen), Selbstironie und hanseatischer Humor. Wie sähe unsere Welt aus, wenn so mancher korrupte Autokrat wenigstens zwei oder drei dieser Uwe-Seeler-Tugenden im Herzen hätte.
Wenn ich den Eingang Nordost des Volksparkstadions wähle, stehe ich vor einem riesigen Fuß. Es ist eine 3,50 Meter hohe und mindestens 2,5 Tonnen schwere Nachbildung des Uwe-Seeler-Fußes, in Bronze gegossen von der Mönchengladbacher Künstlerin Brigitte Schmitges. Wir Hamburger sagen dazu: „Uns Uwe sein Fuß“. Man könne sogar all seine Verletzungen erkennen, bemerkte der Geehrte bei der Einweihung seines Denkmals vor 17 Jahren begeistert. „Die Menschen dieser Stadt schauen mit Respekt und Liebe zu Uwe Seeler“, sagte Hamburgs damaliger Bürgermeister Ole von Beust im Rahmen der Zeremonie, „und das gerade, weil er nicht auf großem Fuß lebt, sondern Vorbild für Bescheidenheit ist“.
Braucht es in Zeiten, in denen verarmte Palaststürmer in Sri Lanka Millionen Rupien finden, in denen die Rüstungskosten der NATO bei 1 175 Milliarden Dollar liegen, in denen abgehobene, der Bodenhaftung verlustige Mächtige ihre Macht über Schutzbefohlene missbrauchen – braucht es da nicht genau solch ein Vorbild? Dieser Fuß mit all seinen Narben ist ein Anti-Denkmal wider alle Denkmäler, die sich Autokraten zu Lebzeiten auf Kosten der verarmten Untergebenen haben errichten lassen. Oder die sich gleich im Kalender verewigen, wie der Herrscher von Turkmenistan, der einst den ersten Monat des Jahres in Turkmenbashi umbenannte – „Vater aller Turkmenen“.
Bleib normal. Oder wie es Jesus ausdrückte: „Der Erste von allen soll ein Diener sein.“