Gold ist ein besonderer Werkstoff, weil es Licht reflektiert, sehr dünn ausgewalzt werden kann und nicht oxydiert. Schon im alten Ägypten hat man mit Gold unvergängliches Licht dargestellt. Reliquien in einem Goldgefäß sind in ewigem Licht geborgen. Glasplättchen, die auf einer Seite eine Goldauflage haben, reflektieren Licht und stellen in Mosaiken ewiges Licht dar. Wenn man die Goldplättchen auf einem Pergament oder einem Brett anbringt, erhält man den Goldgrund, der das Thema des Bildes in die Ewigkeit entrückt.
Eine Wirkung von Licht ist der Schatten. Er wird im Benedictus als „Schatten des Todes“ dem Licht aus der Höhe entgegengesetzt (Lk 1,79). Unter anderem in der griechischen Mythologie ist der (Schlag-)Schatten eine Bezeichnung für die Seele Verstorbener. In der Malerei kommt der (Körper-)Schatten erstmals in Athen um 400 v. Chr. vor. Als Erfinder der Malerei mit Schatten erwähnt Plinius den Apollodor, den Lehrer des Zeuxis. Die plastische Modellierung mit Körperschatten ging in der Spätantike verloren und wurde erst im 15. Jahrhundert wieder entdeckt und von Leonardo da Vinci zum sfumato entwickelt, dem geheimnisvollen Auftauchen der Körper aus dem Dunkeln.
Lichtwechsel, in jeder mit Kerzen erleuchteten Kirche erlebbar, wurde erst im 15. Jahrhundert ein Thema der Malerei, zuerst bei Nachtszenen, dann bei Kerzenbildern – Gemälden, bei denen eine Kerze als einzige Lichtquelle vorgestellt wird. Die Maler Caravaggio und Rembrandt arbeiteten in Häusern mit innenliegenden, teilbaren Fensterläden. So konnten sie das Tageslicht ins abgedunkelte Atelier lenken wie mit Scheinwerfern. Für den Maler Claude Monet wurde der Wechsel des Tageslichts zu einem Lebensthema.
Die abgebildete Tafel in der Münchner Pinakothek (WAF 619) stammt aus der Ursula-Kirche in Köln. Sie war vermutlich Teil eines Altars mit acht Bildern zum Leben Mariens. Ihr Maler wird danach Meister des Marienlebens genannt. Er war 1463 bis 1480 in Köln tätig und kannte Bilder von Rogier van der Weyden und Dirk Bouts. Sulpiz Boisserée hat die Tafeln 1812 erworben und 1827 mit seiner ganzen Gemäldesammlung an König Ludwig I. von Bayern verkauft, der damals gerade die Pinakothek bauen ließ, die später die Alte genannt wurde. Eine Tafel mit der Darbringung Jesu im Tempel kam über die Sammlungen Rechberg und Öttingen-Wallerstein in die National Gallery in London. Gestiftet hat die Bildfolge Johann von Hirtz, der 1440 bis 1474 als Ratsherr in Köln bezeugt ist und viermal Bürgermeister der Reichsstadt war.
Von den vielfältigen Tätigkeiten her gesehen scheint das Bild auf den ersten Blick eine Momentaufnahme aus einer Wochenstube. Aber dorthin hatten keine Männer Zutritt, auch keine Maler. Darum gibt es in der europäischen Kunst im Gegensatz zur afrikanischen oder altamerikanischen keine Geburtsdarstellungen. Bilder, die so genannt werden, zeigen die Verehrung des Neugeborenen oder die Übergabe des gewickelten Kindes an seine liegende Mutter. Hier reicht die im Ehebett liegende, bis zu den Achseln zugedeckte Mutter ihr Neugeborenes einer assistierenden Frau. Das Kind ist ganz rein, ohne Nabelschnur, aber mit einem Strahlennimbus. Weder Mutter noch Hebamme fassen den kleinen Leib mit ihren Händen an; ein durchsichtiges Tüchlein bewahrt ihn vor der Berührung. Ein kultisches Verbot, Heiliges zu berühren, gibt es in vielen Religionen, auch im Judentum und Christentum (vgl. 2 Sam 6,7: Usa stirbt, weil er die Lade Gottes mit der Hand angefasst hat. Katholische Priester umfassen die Monstranz nur mit verhüllten Händen).
Der Leib des Kindes, der bei einer natürlichen Geburt mit Blut verschmiert sein müsste, ist fleckenlos rein. Die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis Mariens wird damit angedeutet. Sie wird später ganz andere Bildformen bis hin zu den Gnadenbildern von Lourdes und Fatima entfalten.
In der Legenda Aurea des Erzbischofs von Genua, Jacopo de Voragine (1228–1288), wird nach älteren Quellen das Leben Mariens erzählt: Ihr Vater Joachim wurde aus dem Tempel verwiesen, weil er keine Kinder hatte. Betrübt ging er aufs Feld zu seinen Schafen, dort erschien ihm ein Engel und versprach ihm Nachkommen. Seiner Frau Anna erschien ebenfalls der Engel, und sie ging ihrem Mann entgegen; an der Goldenen Pforte begegneten sie sich. In drei Stationen wird diese Vorgeschichte in der ersten Tafel des Marienlebens geschildert. Dann folgen die Geburtsszene, Mariae Tempelgang, die Verlobung mit Josef, die Verkündigung, die Heimsuchung, die Darbringung Jesu im Tempel (heute in London) und Mariae Himmelfahrt.
Geburt war Frauensache, Hebammen, Nachbarinnen und Verwandte konnten assistieren. In unserem Bild sind es sieben verheiratete Frauen, „unter der Haube“ also, mit festgebundenen weißen Kopftüchern, und eine „Jungfrau“ mit aufgesteckten Zöpfen. Was sie dabei tun durften, war in einer langen Bildtradition festgelegt: das Neugeborene baden, das Badewasser prüfen, das Kind wickeln, es der Mutter hinhalten, Essen und Trinken bringen, dabei auch sich selbst nicht vergessen, wie es Dürer in seinem Marienleben gezeigt hat. Die Jüngste muss das Wasser in einem Henkelkessel schleppen und in die Messingwanne gießen. Die Verheiratete im Goldbrokatkleid prüft die Temperatur. Eine andere reicht aus einer Truhe ein weißes Tuch. Davor liegen hölzerne Unterschuhe. Eine Spanschachtel, eine Kanne und ein Schälchen aus Zinn deuten Hausrat an. Die roten Vorhänge des Himmelbetts sind verknotet. Sie hängen wie Tropfen über dem Bett. Hinter den Möbeln glänzt der Goldgrund. Er ist in den anschließenden Bildern der Ort, an dem Engel, Gottvater und der auferstandene Christus erscheinen.
Der vermutlich vom Auftraggeber geforderte, um 1470 bereits etwas altmodische Goldgrund wird im Bild der Geburt Mariens nach unten fortgesetzt durch einen Goldbrokatvorhang, der an einer schwarzen Stange, möglicherweise aus Eisen, aufgehängt ist. Davor erstreckt sich das Zimmer mit seinem rotweißen Fliesenboden, dem schräggestellten großen Himmelbett und den vom Vordergrund nach hinten kleiner werdenden Figuren in die Tiefe. Die aus Florenz importierte Linearperspektive stößt mit alten Sehgewohnheiten und Würdeanforderungen zusammen.
In den im Freien spielenden Szenen (Joachim und Anna, Heimsuchung) ist es die niederländische Farbperspektive, die mit den blauen Bergen hart an den Rand des raumlosen Goldgrunds stößt. Wie kann man in einer zunehmend realistisch gesehenen Welt das Wirken Gottes, die Transzendenz, das Ewige sichtbar machen? Und glauben?
Schatten gibt es in unserer Momentaufnahme vor dem Grund der Ewigkeit nur in den Falten der weißen Tücher, die sonst als farblose Fehlstellen in der Malerei gesehen würden. Das liebenswerte Bild voller genau gemalter Gegenstände stammt aus dem „Herbst des Mittelalters“, als die Probleme der Neuzeit vorerst nur in Andeutungen sichtbar wurden.