Was ist Ökumene? Die Frage wirkt im deutschen Sprachraum auf den ersten Blick simpel, zumal für kirchlich engagierte Christinnen und Christen. Doch wie gerne hätte ich meine Theologiestudierenden – ausgestattet mit dieser „Forschungsfrage“ – in die Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) in Karlsruhe mitgenommen: in die Plenarsitzungen und Workshops, zu Gesprächsrunden, Mittags- und Kaffeepausen, zu Gebeten in den unterschiedlichen weltchristlichen Traditionen. All diese Formate sind darauf ausgerichtet, Begegnungsorte zu sein und Foren zu bieten, um gehört zu werden. Im Zuhören und Austausch artikulierte sich ein beeindruckend vielfältiges Spektrum dessen, was wir unter Ökumene verstehen. Viele der Teilnehmenden, zumal die Delegierten der 352 Mitgliedskirchen des ÖRK sowie verschiedene Ökumenevertreterinnen und -vertreter, waren mit einer Botschaft bzw. einem Auftrag aus ihren jeweiligen kulturellen, historischen, politischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexten angereist. Die Schlagworte Einheit, Gerechtigkeit und Frieden prägen ihr Ökumeneverständnis, kommen aber in unterschiedlicher Gewichtung zum Ausdruck.
Auf der Agenda standen zum einen politische Themen, die eine Stellungnahme der Kirche(n) verlangen. Schon im Vorfeld der Vollversammlung konzentrierte sich viel auf das Thema Ukraine / Russland – bei einem ansonsten eher geringen medialen Interesse an diesem kirchlichen Großevent. Das tiefe Bemühen war spürbar, den Vertreterinnen und Vertretern der beiden orthodoxen Kirchen der Ukraine die Möglichkeit zu geben, ihre Stimme zu erheben, sie insbesondere mit der russischen Delegation ins Gespräch zu bringen und so die Sprachlosigkeit überwinden zu helfen, die Teil und Prägemal dieser Krise ist. Die so eklatant unterschiedlichen Narrative, die tiefe Wunden geschlagen haben, waren dennoch auch hier gegenwärtig. Klare Verurteilungen sind geäußert worden. Der ÖRK stellte sich aber nicht nur im Vorfeld, sondern auch in Karlsruhe ebenso klar gegen die Option eines Abbruchs des Dialogs – ein Votum, das in seinen Grundprinzipien zwar breite Zustimmung und Resonanz findet, das aber auch nach Konkretisierung verlangt. Denn Brücken bauen kann letztlich nur dann gelingen, wenn beide Seiten zum Überbrücken bereit sind.
Durch das Zusammenkommen der Weltchristenheit stand zudem eine Vielzahl drängender Probleme und Themen auf der Tagesordnung, die unseren europazentrierten Blick weiten. Die Vollversammlung war ein Seismograph für das Verbindende und das Fragile der christlichen Welt. Es ging um Fragen der Menschenwürde und Menschenrechte, der Gerechtigkeit auf vielen gesellschaftlichen wie persönlichen Ebenen, der Schöpfungsverantwortung und der Sorge um den Mitmenschen, der Solidarität und Gastfreundschaft, von spezifischen Anliegen Unterdrückter und Marginalisierter, der (theologischen wie allgemeinen) Bildung und Ausbildung, und – wenn auch verhältnismäßig weniger präsent, weil in die einzelnen bi- und multilateralen Dialoge ausgelagert – Fragen der ökumenischen Theologie.
Die Vollversammlung entscheidet über die Ziel- und Ausrichtung der Arbeit des ÖRK für die nächsten acht Jahre. Umso verständlicher war das erlebbare Ringen darum, welche Kirchen und Gruppen in welcher Weise vertreten und befähigt sein werden, in diese Prozesse eingebunden zu sein. Mehr als je zuvor sind Stimmen laut geworden, die eine zukünftig höhere Repräsentanz der jungen Generation fordern – eine Forderung, die der ÖRK bereits in der Vorbereitung aufgegriffen und an die Mitgliedskirchen zurückgespielt hat. Ebenso zu hören sind – auf der anderen Seite – besorgte Stimmen angesichts der Tendenz, ökumenische Bildung aus theologischen Curricula zu streichen bzw. sie nur als Zusatz- oder Wahlfach anzubieten: Für die Entscheidungsträgerinnen und -träger dürfe die Vollversammlung nicht nur Lern-, sondern müsse Aktionsort für Ökumene sein.