Derzeit gibt es kaum einen Bischof, der in seinen Predigten nicht von geistlicher Erneuerung oder Evangelisierung spricht. Das sei das Zentrale, nicht so sehr der Blick auf Lehr- und Strukturreformen. Schon der Papst hatte dies 2019 dem pilgernden Volk Gottes in Deutschland ins Stammbuch geschrieben: Eine der ersten und größten Versuchungen besteht laut Franziskus demnach darin, zu glauben, „dass die Lösungen der derzeitigen und zukünftigen Probleme ausschließlich auf dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu erreichen sei“. Leitkriterium müsse vielmehr die Evangelisierung sein. Aktuell fordert dies in ähnlicher Weise der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick, wenn er markig formuliert: „Weniger Bürokratie – mehr Spiritualität, weniger Institution – mehr Frohbotschaft Jesu Christi.“
Das klingt gut, und wer würde bestreiten, dass es den Kirchen in erster Linie um den Glauben, um die Nachfolge Jesu, um das geistliche Wachstum gehen sollte!? Zugleich ist die Rede von der Evangelisierung seltsam wolkig. Was bedeutet sie denn eigentlich? Was ist konkret gemeint, wenn es heißt, dass die Kirche vor allem eine geistliche Reform braucht? Nicht selten entsteht der Eindruck, dass mit dieser Rede vor allem die Diskussionen um Reform der Struktur und Lehre in der Kirche beendet werden sollen.
Doch ist das eine wirklich ohne das andere zu haben? Kann beides gegeneinander aufgewogen oder gar ausgespielt werden? Oder sind innere und äußere Reform nicht zwei Seiten derselben Medaille? Der Synodale Weg etwa versteht sich ja bewusst als geistlicher Prozess, der eben deshalb auch die Strukturen verändern will, welche die Verkündigung behindern, das Evangelium verdunkeln oder gar Missbrauch begünstigen. Entsprechend heißt es im – noch nicht final verabschiedeten – Präambeltext: „Das Ziel des Synodalen Weges ist es, neu auf das Evangelium der Befreiung zu hören … Wir setzen darauf, dass sich das Leben in den Gemeinden und an anderen Orten kirchlicher Gemeinschaft erneuert.“ Auch hier also lautet die Zielsetzung klar Evangelisierung. Es wird aber eben genauso eindeutig formuliert: „Das kann nur durch einen Wandel geschehen, der neben einer veränderten Haltung auch institutionelle Veränderungen in den Blick nimmt.“
Der Priester Thomas Frings, der vor sechs Jahren zeitweise aus allen seinen Ämtern im Bistum Münster ausschied (Aus, Amen, Ende. So kann ich nicht mehr Pfarrer sein, Verlag Herder, Freiburg 2018), brachte es in einem Interview unlängst auf den Punkt: „Ich habe den starken Verdacht, dass das Argument der Evangelisation missbraucht wird, um den Status quo zu wahren.“ Ein Vorwand also, um nichts zu ändern. Für ihn steht jedoch fest: „Die Strukturen müssen geändert werden. Wenn wir festgestellt haben, dass man in dieser Kirche eigentlich erst ab der Weihe als richtiger Christ gilt, dann stimmt da was nicht bei uns. Das Evangelium gilt nicht erst ab der Priesterweihe. Das Evangelium gilt mit seinen Ansprüchen und Zusprüchen ab der Taufe. Doch gilt das für unsere Kirche fast nicht mehr, weil wir eine Struktur hervorgebracht haben, in der es heißt: Du darfst erst richtig mitentscheiden, wenn du geweiht worden bist, und du kannst nur geweiht werden, wenn du Mann bist, und du wirst nur geweiht, wenn du auch nicht heiratest. Da hängt zu viel zusammen, was nicht zusammenhängen muss.“
Das Thema Erneuerung – in seiner ganzen Dimension – beschäftigt uns in Beiträgen in Christ in der Gegenwart und in Veranstaltungen der Domberg-Akademie Freising schon lange. Wir nehmen bei den Leserinnen und Lesern sowie bei Teilnehmenden eine große Sehnsucht wahr, dass doch endlich wirklich Neues entstehen, dass Kirche anders werden möge und dass der Glaube eine Zukunft habe. Gleichzeitig herrscht allenthalben auch Skepsis, ob Erneuerung tatsächlich möglich ist. Werden die Kirchen die Kraft haben, sich selbst zu reformieren? Wird man den massenhaften Auszug der Menschen stoppen können? Kann die Glut unter der Asche wieder zum Lodern kommen? Oder sind wir längst bei einem erkalteten Glauben angelangt, der nur noch aus kulturellen und gedanklichen Versatzstücken besteht? Löst sich womöglich gerade das Christentum auf? Der tschechische Religionsphilosoph und Priester Tomáš Halík schreibt in seinem neuen Buch Der Nachmittag des Christentums (Verlag Herder, Freiburg 2022; vgl. CIG Nr. 22, S. 5), dass die Kirchen das Monopol auf Religion eingebüßt haben, und er konstatiert eine Kirche ohne Religiosität. „Während der Aufklärung verloren sie die Kontrolle über die weltliche Sphäre – und jetzt auch über das religiöse Leben. Der größte Konkurrent der Kirchen ist heute nicht der säkulare Humanismus und Atheismus, sondern die sich der Kirche entziehende Religiosität.“
Halík ist davon überzeugt, dass die Krise des zeitgenössischen Christentums nicht nur die Strukturen der Kirche, sondern den Glauben selbst betrifft. Dabei wäre es voreilig, einfach von einem schwächer werdenden Glauben zu sprechen. „Die Krise der gegenwärtigen Form der Kirche besteht … in der sich vertiefenden Distanz zwischen dem, was die Kirche verkündet sowie der Art und Weise, wie sie es verkündet, und den Vorstellungen und den Ansichten der Gläubigen.“
Die Distanz zwischen dem, was verkündet wird, und den Vorstellungen der Gläubigen darüber setzt voraus, dass es einen gemeinsamen Kern gibt. „Worin besteht die Christlichkeit unseres Glaubens, worin die Identität des Christentums?“, fragt Halík.
Die Kirche hat sich im Lauf ihrer Geschichte immer wieder „neu erfunden“, um das Evangelium in anderen Zusammenhängen und Kulturen zu verkünden. Ecclesia semper reformanda. Der letzte große Reformimpuls war das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965), an dessen Beginn vor 60 Jahren in diesen Tagen allenthalben erinnert wird. Wir sind überzeugt: Auch heute ist Erneuerung möglich. Auch unsere Zeit braucht diese Erneuerung, weil sie das Evangelium braucht.
Doch bevor – und damit – etwas Neues entstehen kann, müssen wir uns erst grundsätzliche Fragen stellen: Woran glaube ich? Was ist der Kern der Botschaft Jesu? Gibt es überhaupt einen solchen Kern ohne seine jeweilige zeitgemäße und kulturelle Vermittlung? Was bedeutet die Botschaft des Mannes aus Nazareth für mich heute? Welchen Halt, welchen Sinn kann der Glaube den Menschen im 21. Jahrhundert geben? Warum ist es gut und sinnvoll, auch heute noch in den Fußspuren Jesu unterwegs zu sein? Was fehlt der Gesellschaft, dem Zusammenleben, wenn Christinnen und Christen fehlen? Wie können wir verantwortet vom Glauben sprechen und so, dass Menschen nachvollziehen können, was uns hält, trägt und was uns wichtig ist? Diese Fragen stellen sich Glaubende immer wieder neu. Eine Standortbestimmung, wie sie beispielsweise auch der große Hans Küng in seinen 20 Thesen zum Christsein einst unternommen hat.
Es wird in Zukunft, so unsere These, vieles davon abhängen, inwieweit es Christinnen und Christen gelingt, den Kern des Christentums neu freizulegen und durch das Zeugnis des Lebens das Unsichtbare sichtbar zu machen. Kurz und prägnant: Wie kann der Glaube neu gefunden und glaubwürdig in unser Hier und Heute buchstabiert werden? Gerade für Menschen, die anscheinend „ohne Gott“ gut leben können, und das längst nicht mehr nur im Osten Deutschlands? In diesen Monaten ging die Meldung durch die Medien, dass die Christen erstmals die Minderheit in Deutschland bilden. Und dennoch: Viele Menschen sind ja nach wie vor auf der Suche, auch spirituell. Sie haben einen „säkularen Glauben“, der die Würde der menschlichen Person und ihre unveräußerlichen Rechte in den Mittelpunkt stellt. Vielleicht sind ja gerade diese Menschen für uns eine Chance, den „Link“ zu Gott zu suchen und zu finden. Davon zu sprechen, was uns der Glaube wert ist.
Doch dabei wollen wir nicht stehen bleiben. Noch immer leben wir schließlich von der Überzeugung, dass Glaube Gemeinschaft braucht. Lässt sich das auch in einer individualisierten Welt dauerhaft behaupten? Und wenn ja, wie muss diese Gemeinschaft, diese Kirche der Zukunft aussehen? Wie kann sie einladend für die Menschen von heute sein? Auch Tomáš Halík fragt: Wie kann man Kirche neu denken, deren Aufgabe es ist, „die ihr anvertraute Botschaft so zu reinterpretieren, dass ihr Sinn angesichts des sich wandelnden kulturellen und gesellschaftlichen Kontextes nicht verfälscht wird“?
Es wird in Zukunft vieles davon abhängen, dass es Christinnen und Christen gelingt, den Kern des Christentums neu freizulegen und durch das Zeugnis des Lebens das Unsichtbare sichtbar zu machen.
Glaube neu denken heißt für uns, dass wir uns auf die Suche machen nach dem, was eine Erneuerung aus dem Geiste Jesu bedeutet. Um es klar zu sagen: Hier geht es nicht um eine Spiritualisierung, um eine Flucht aus der Welt, sondern um ein Suchen nach dem, wie wir den Glauben heute neu verstehen, leben und gestalten können. Und welche Konsequenzen dies für die Gemeinschaft der Glaubenden hat.
Folgende Perspektiven sollen uns unter anderem Inspirationsquelle sein: Was sagen uns Tradition, Bibel und die Zeichen der Zeit als Orte, an denen Gott erfahrbar wurde und wird? Wir gehen an die Ränder und fragen die ausgegrenzten und vulnerablen Menschen. Wir hören die Zweifelnden und die, die sich neu auf die Suche nach ihrem Glauben begeben. Welche Antwortversuche gibt es aus der Theologie? Wie versuchen Orden und Geistliche Gemeinschaften jeden Tag neu, den Glauben zu leben? Wo gibt es Aufbrüche innerhalb und außerhalb kirchlicher Organisationsformen? Wie können wir in Zukunft in der Gemeinschaft aller Christinnen und Christen unterwegs sein?
Beginnen werden wir unsere Suchbewegung mit einer Artikelserie im CIG, in der Regel im Abstand von zwei Wochen. Sie beruht auf vielen Gesprächen, die hoffentlich schon einige Bausteine eines zukunftsfähigen Glaubens freilegen. Sie bilden die Grundlage für weiterführende Diskussionen mit unseren Gesprächspartnerinnen und -partnern bei einem „Gipfeltreffen“ im neuen Jahr, einer Veranstaltung in der Domberg-Akademie, die live vor Ort und im Internet zu verfolgen sein wird.
Aber wir wollen noch weiter zuhören und in einer Podcastserie Menschen zu Wort kommen lassen, die aus dem Geist Jesu leben. Sie sollen erzählen, was Glaube für sie konkret bedeutet und welche Form einer Gemeinschaft von Gläubigen sie leben. In einem Barcamp im zweiten Quartal 2023 möchten wir uns schließlich mit möglichst vielen gemeinsam auf die Suche danach machen, wie wir Glauben neu denken und gestalten können. Und was dies für eine Gemeinschaft der Zukunft heißt.
Um es noch einmal zu sagen: Wir sind überzeugt, dass eine Erneuerung des Christentums durch die Rückbesinnung auf den innersten Kern zwangsläufig auch Folgen für die Struktur der Organisation Kirche hat. Die Struktur muss dem Inhalt folgen und nicht umgekehrt. Aber sie muss ihm eben auch folgen.
Letztlich ist unser Projekt von der Zuversicht getragen, dass es eine Verwandlung geben, dass Neues entstehen kann und dass wir auf die Zusage vertrauen können, die wir beim Propheten Jesaja (43,19) finden: „Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht?“ Wenn wir Christinnen und Christen wieder wissen, was uns Atem gibt und antreibt, wenn wir wissen, was unser Fundament ist, uns hält und wofür wir stehen. Wir sind davon überzeugt, dass dies auch Kirche radikal verändern muss, sonst wird sie zu einem Haus ohne Zuhause.
Die nächste Folge: Im zweiten Teil unserer Reihe fragt Stephan Mokry, theologischer Referent der Domberg-Akademie, bei Experten nach, was der Blick ins Neue Testament, in die Geschichte und in die kirchliche Tradition zur Erneuerung des Glaubens beiträgt. Der Beitrag wird voraussichtlich in CIG Nr. 41 erscheinen.