Wer in Frankreich eine Messe hört und versteht, wird feststellen, dass Unser Vater dort nicht im Himmel (ciel) ist, sondern in den Himmeln (cieux). So steht es auch im griechischen Urtext bei Matthäus und Lukas (en tois uranois). Grundgebete der Christen, das Vaterunser, das Credo, das Magnificat, das Benedictus, Gloria und Te Deum klingen in anderen Sprachen nicht nur anders, sondern bedeuten anderes. Das fängt schon beim Brot an, das als bread, pain, pane, pan jeweils anders riecht und schmeckt. Doch bleibt es immer das europäische Grundnahrungsmittel seit Jahrtausenden, seit der Jungsteinzeit, in der Menschen zuerst im Vorderen Orient als Ackerbauern lebten und Brot zu backen lernten. Der Unterschied zwischen dem Himmel, der sich als Firmament mit Wolken und Sternen darstellt, und den Himmeln mit fernen Galaxien, wie sie auf der Suche nach Schwarzen Löchern bisher fotografiert wurden, ist beträchtlich. Dass es mehrere Himmel gebe, ist Gemeingut vieler Religionen und war auch für Paulus selbstverständlich (2 Kor 12,2). Das Beten in anderen Sprachen öffnet neue Horizonte.
Wenn wir uns bemühen, ein Gebet in einer anderen Sprache auswendig zu lernen, ist das zunächst ein Gedächtnistraining. Dann aber führt es zu Fragen nach dem Sinn des Textes beim ersten Mal und jedes Mal, wenn wir ihn memorieren. Wir strengen uns mehr an, sind aufmerksamer, vermeiden bequeme Routine. An einigen Beispielen aus dem englischen Book of Common Prayer (ratifiziert 1571), dem französischen Missel des Dimanches (2021), dem Stundenbuch für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebiets (1978) und dem Novum Testamentum Graece et Latine von Nestle-Aland (1928) seien Beispiele genannt, wie die Übersetzungen zu Sinnfragen führen. Allein diese knappe Literaturangabe zeigt an, dass hier kein Theologe schreibt, sondern einer, der sich mit Erinnerungen an das humanistische Gymnasium und einigen Aufenthalten im Ausland um das „Reden mit Gott“ bemüht.
„Herr“ ist ein Alltagswort geworden, steht selbst auf Toilettentüren. Die griechische Anrufung Kyrie bezeichnet zwar eine andere Ebene, ist aber geläufig, vertraut, nicht mehr erstaunlich, ganz anders als O Lord show thy mercy upon us. Wenn wir Gott Lord nennen, spüren wir Geschichte, hören einen schier unüberbrückbaren Gegensatz zur Gesellschaft von heute, werden wir inne, von wie weit her unsere Gottesrede kommt. Signore oder Seigneur sind weniger fremd, haben nicht diese Alterswürde. Zu erforschen, wie alt unsere Reden von Gott und zu Gott sind, ist Aufgabe der Theologen in Zusammenarbeit mit Assyriologen, Ägyptologen, Philologen und Religionswissenschaftlern. In diesem Beitrag geht es nur um Gebetspraxis heute in einem allgemeinen „katholischen“ Sinn.
Wenn wir Gott „Lord“ nennen, spüren wir Geschichte, werden inne, von wie weit her unsere Gottesrede kommt.
Aus zwei Versen im Lukas-Evangelium haben Christen im Mittelalter das Volksgebet des Ave Maria gestrickt und die Namen Maria und Jesus zugefügt (Lk 1,28; 1,45; erforscht von Elisabeth Gössmann). Die griechische Begrüßung chaire kecharitomene enthält ein unübersetzbares Wortspiel (freue dich Freudenvolle, Gnade mit Dir Begnadete). Das Grußwort des Engels chaire wurde zu Ave, Gegrüßet seist Du, Je vous salue. Die passivische deutsche Form lässt im Unklaren, wer hier spricht, der Engel oder die Betenden. Im aktiven französischen Je vous salue meint es eher die Betenden, die von da an in allen Mariengebeten die Anrede vous (dt. Sie) gebrauchen. Gott, der Vater im Himmel, wird dagegen geduzt. Der Vergleich zwischen der französischen und der deutschen Übersetzung lädt zum Nachdenken ein über den Sinn in der Erzählung des Lukas und im heutigen Gebet. Aus der kecharitomene wurde gratia plena, voll der Gnade, pleine de grace.
Im Griechischen und Lateinischen braucht nicht jeder Satz ein Prädikat: ho kyrios meta sou / Dominus tecum genügt, es braucht kein „sei mit dir“ oder „ist mit dir“, um die Anwesenheit Gottes festzustellen oder anzurufen. Eulogumene / Benedicta, wörtlich „Gutgesagte unter den Frauen“, im Deutschen aus dem Lateinischen abgeleitet „Gebenedeite unter den Frauen“, bietet eine der wenigen Gelegenheiten, mit einem halblateinischen Wort auf die Sinnfülle von Gepriesen und Gesegnet hinzuweisen. Wenn man dann der Randglosse jdx 5,24 (= Ri 5,24) folgt, erfährt man, dass „gebenedeit unter den Frauen“ im Gruß des Engels an Maria ein Zitat aus der Rede des Engels des Herrn an Jaël ist, die einen feindlichen Feldherren getötet hat. Das Neue Testament folgt nicht nur historisch dem Alten, sondern besteht weithin aus einer neuen Deutung des Alten.
Auch für das Beten in Gemeinschaften, in denen nicht alle die gleichen Sprachkenntnisse haben, sollten wir fremdsprachliche Elemente aufnehmen, so wie wir in der Liturgie das griechische Kyrie, das hebräische Amen, Hosanna, Halleluja benützen und damit andeuten, dass unsere Feier und unser Gebet nicht von heute und nicht ursprünglich deutsch sind. Vor allem das scheppernd klingende, schal gewordene „Ehre“ sollten wir durch Gloria, Gloire, Glory aus dem Lateinischen ersetzen. Wir könnten so den Geist der Weltkirche nicht nur in Pfingsten, Bischof, Priester, Diakon und anderen griechischen Lehnwörtern spüren, sondern in jedem Gebet. Im griechischen doxa (von dokeo, ich scheine, abgeleitet) klingt ein visuelles Element von sichtbarer Herrlichkeit und Pracht an, das im lateinischen gloria an die neusprachlichen Lehnwörter weitergegeben wurde, aber leider nicht im Deutschen angekommen ist.
O God, make speed to save us. O Lord make haste to help us. Klingt das nicht viel dringlicher, drängender als unsere Einleitung zum Stundengebet: „O Gott, komm mir zu Hilfe, Herr, eile uns zu helfen.“ Das in diesem Zusammenhang für uns ungewohnte speed, haste, an das sich Engländer vielleicht längst gewöhnt haben, könnte unserem Beten einen neuen Drive geben. Im Benedictus, dem Lobpreis des Zacharias, der aus dem Lukas-Evangelium in das Morgengebet der Kirche übernommen wurde, lautet der Vers 1,78: „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens“. Im lateinischen Text stehen als erste Worte dieses Verses: per viscera misericordiae Dei nostri; im griechischen: dia splagchna eleous theou haemon; wörtlich: durch die Eingeweide des Erbarmens unseres Gottes. Eingeweide sind etwas Körperliches, innere Organe, Herz, Leber, Niere. Der Gott der Himmel, der Galaxien und Schwarzen Löcher hat Organe wie wir, wird als lebendes, fühlendes Wesen vorgestellt. Demgegenüber bleibt die „barmherzige Liebe“ abstrakter, geistiger. Das entspricht einer Tendenz, in den biblischen Texten die körperlich-sinnlichen Elemente zu reduzieren zu Gunsten einer rein geistigen Vorstellung von Gott, die einer „Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ (Immanuel Kant, 1793) entspricht. Zugleich verschiebt die Übersetzung „das Aufstrahlen des Lichts aus der Höhe“ in eine ferne Zukunft: „wird uns besuchen“. Im Griechischen und Lateinischen, auch im Englischen, steht hier das Perfekt, die Vergangenheitsform visitavit, „hat uns besucht“, und weist damit auf den Christus, der schon gekommen ist. Die letzten Worte des Verses sprechen von „Schritten auf den Weg des Friedens“. Im Griechischen, Lateinischen und im Englischen werden „Füße geleitet“. Da kann man sich eine geduldige Mutter oder Pflegekraft vorstellen, die einem Kleinkind oder einem Gelähmten die Füße umfasst, um einen vor den anderen zu setzen. „Schritte“ klingt eher nach Marsch, „Füße“ nach liebevoller Zuwendung. Die Vergeistigung und Entsinnlichung heiliger Texte bei der Übersetzung ins Deutsche führt im Glaubensbekenntnis zu einer fleischlosen Vorstellung vom ewigen Leben im Gegensatz zur resurrectio carnis (lat.), resurrection de la chair (franz.), the resurrection of the body and the life everlasting (engl.).
Die großen Taten Gottes in vielen Sprachen zu preisen, weitet und vertieft das Gebet, ist keine Sprachverwirrung von Babel (vgl. Gen 11,7), sondern ein Pfingsterlebnis in Jerusalem. Doch sollen hier keine Empfehlungen für die Herausgeber liturgischer Texte formuliert werden, sondern für einzeln oder in Gemeinschaft Betende. Sie können die Zeitangabe „kommen wird“ leicht durch „gekommen ist“ ersetzen, oder auch im Vaterunser das „wie auch wir vergeben“ durch „wie auch wir vergeben haben“ – und nicht irgendwann vielleicht vergeben werden. Die „Füße“ und die „Eingeweide“ bringen wir nicht so leicht im deutschen Text unter, aber wir können sie als sinnliche Zeichen der Innerlichkeit mitdenken, wenn wir von der „barmherzigen Liebe“ sprechen.
Die letzte Bitte des Vaterunser lautet lateinisch libera nos a malo („Befreie uns von dem Übel“). Im Englischen und Französischen hat man mit deliver oder délivrer am Wortstamm von liberare festgehalten. Martin Luther hat die Befreiung durch den (theologisch schwierigen) Begriff Erlösung ersetzt. Zudem wurde in der ökumenischen Übersetzung das Übel auf das Böse verengt. Aus Religion wurde Moral. Das Übel der Erderwärmung durch fossile Brennstoffe geht zum Teil auf Böses zurück, nämlich rücksichtslose Habgier. Für besitzlose Landarbeiter aber war der Kohlebergbau am Anfang der Industrialisierung der einzige Ausweg vor dem Verhungern. „Befreie uns von dem Übel“ kommt dem ursprünglichen Sinn näher.
2018 hat Eckhard Nordhofen in seinem faszinierenden Buch Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus auf eine besonders gravierende Sinnverschiebung durch Übersetzung hingewiesen. „Unser täglich Brot“ meint im Urtext weder Brötchen noch Laib, sondern ein Brot, das das Sein übersteigt. Supersubstantialis, so hat Hieronymus das griechische epiousion, das hier bei Matthäus und Lukas steht und sonst nirgendwo vorkommt, übersetzt. Die ältere Übersetzung in der Vetus Latina, der an dieser Stelle die heutigen liturgischen Bücher folgen, machte daraus quotidianum = täglich und verfehlt damit den Sinn des Brotes, das zugleich auf das Manna, das Brot vom Himmel, und den Leib Christi hinweist.