Erich Kästner hat einmal gemahnt: „Lasst euch die Kindheit nicht nehmen!“ Astrid Lindgren liefert die Gründe, diesen Rat zu beherzigen: „Kinder tragen in sich eine Ahnung von allem, was es im Leben gibt, und können es ganz spontan ausdrücken. Vielleicht werden Kinder von Gott mit sehr viel Klarsicht in die Welt geschickt. Manchmal möchte man meinen, Kinder könnten den Großen etwas über die Zusammenhänge im Leben sagen, die sie schon längst vergessen haben“, schrieb sie in „Das Paradies der Kinder“. Wer in jungen Jahren wirklich Kind sein darf, erwirbt einen unerschöpflichen Schatz an Vertrauen, Hoffnung und stärkenden Erinnerungen. Mit ihm zu arbeiten, ihn zu pflegen oder gar zu vergrößern – das ist vielleicht die wesentliche Aufgabe in einem Erwachsenenleben.
Zu diesem Urschatz hat Astrid Lindgren, die am 28. Januar vor zwanzig Jahren verstorben ist, selbst mehr als ein Scherflein beigetragen. Sie hat ihre jungen Leser ermuntert, Mut zu fassen und die Freiheit zu lieben. Und sie hat, obwohl sie es als Agnostikerin wohl öffentlich von sich gewiesen hätte, das Samenkorn Glauben in ihre Texte gestreut.
Die Schwedin war eine der Ersten, die in Kinderbüchern vor dem Tabuthema „Tod“ nicht zurückschreckte. In „Die Brüder Löwenherz“ beschreibt sie mit mythischen und märchenhaften Bildern das Jenseits, ein Leben nach dem Tod, vor dem sich kein Kind zu fürchten braucht. Denn eine wunderbare Welt wartet demnach auf die, welche die Erde hinter sich gelassen haben: Der dreizehnjährige Jonathan versucht, seinem jüngeren todkranken Bruder Kalle die Angst vor dem Sterben zu nehmen. Er erzählt ihm von dem zauberhaften Land Nangiljama, dem Urland der Märchen und Sagen, das hinter den Sternen liege. Nach seinem Tod werde Kalle dorthin fliegen, und er werde sich nie mehr krank fühlen, sondern viele Abenteuer erleben.
Während der Kleine auf seinen Tod wartet, geschieht ein Unglück. Eine Feuersbrunst erfasst auch das Haus, in dem die Brüder leben. Jonathan stürzt nach Hause, packt seinen Bruder auf den Rücken und springt in den Tod. Kalle überlebt und will nichts lieber als bei Jonathan sein. Als er einmal besonders verzweifelt ist, meint er den geliebten Bruder in einer weißen Taube auf dem Fensterbrett zu erkennen. Und er hört eine Zeile aus dem Lied, das Jonathan ihm so oft vorgesungen hat: „Mit ihr (der Taube) wird meine Seele dann bei dir sein.“
Kurze Zeit später steht Kalle an einer Gartenpforte in Nangiljama und liest auf einem grünen Schild: Die Brüder Löwenherz. Er ist endlich angekommen. Abenteuer folgt auf Abenteuer. Doch die Idylle wird bedroht: Die Brüder müssen Kämpfe gegen den Tyrannen Tengil bestehen. Die Urangst verkörpert das Drachenweibchen Katla, das nur Tengil gehorcht. Schließlich kommt es zum Kampf zwischen Gut und Böse. Jonathan besiegt Tengil und Katla. Doch der Drache kann sich befreien und verletzt den jugendlichen Helden. Jonathan droht zu erlahmen, und die Brüder entscheiden sich, erneut in den Tod zu springen, um in das Land Nagilima zu gelangen, wo nur Freude und Spiel herrschen. Dieses Mal ist es Kalle, der seinen Bruder auf den Rücken nimmt: „Und dann werde ich nie wieder Angst haben“, flüstert er, und schon sieht er das Licht von Nangilima. Die Brüder sind endgültig angekommen.
Obwohl der 1973 in deutscher Sprache erschienene Roman unter anderem mit dem Wilhelm-Hauff-Preis ausgezeichnet wurde, erfuhr Lindgrens Sicht Kritik: Sie beschönige den Tod, weil die Brüder Löwenherz ihn instrumentalisierten, um Behinderung und Einsamkeit zu entgehen. Der Tod als Retter? Befürworter der Lindgren’schen Perspektive weisen auf den Zusammenhang von Tod und Trost hin. Das Lebensende verliert seinen Schrecken, als Kalle den Tod akzeptiert. Daher sei der Sprung der Kinder nicht als Selbstmord zu verstehen. Die Argumente ihrer Kritiker entschärfte die Autorin mit einem Erlebnis (Expressen, 23.5.1972): Ein junger Psychologe habe ihr auf einer Veranstaltung gesagt, nie werde er Kindern das Ende der Brüder Löwenherz vorlesen. Denn es sei furchtbar, dass die Brüder zwei Mal sterben müssten. Auch ihr Gegenargument habe ihn nicht überzeugt: „Aber begreif doch, je öfter du stirbst, umso mehr gewöhnst du dich dran.“ Als sie wieder zuhause war, rief ein Mädchen an, das in der Michel-Verfilmung mitgespielt hatte: Sie habe gerade die Brüder Löwenherz gelesen und wolle sich bedanken, „weil du es so glücklich hast enden lassen“. Den Zuspruch kommentiert die Trägerin des Alternativen Nobelpreises lapidar: „So können Kinder es erleben.“
Obwohl Astrid Lindgren den Glauben an ein Leben nach dem Tod stützt, verzichtet sie auf allzu eindeutige biblische Bilder. Auch Gott lässt die vielfach ausgezeichnete Autorin völlig aus dem Spiel. Spricht hier die Agnostikerin? Eher nicht. Die Abenteuerreise der Brüder ist ein Weg der Erlösung, der im Land Nangilima seinen Garten Eden findet. Die Taube als Symbol der Seele, das Licht und das paradiesische Land können als christliche Symbole verstanden werden. Die jeden Widerstand überwindende Liebe der Geschwister, die im gegenseitigen Opfer ihren Höhepunkt findet, erinnert an die christliche Nächstenliebe. Allerdings werden die beiden Löwenherzen nicht erlöst, sondern nehmen ihre Erlösung selbst in die Hand. Das Heilmittel ist die Überwindung der Angst. „Angst lähmt – Mut führt zur Freiheit“, könnte eine Quintessenz der Jenseitsreise lauten. Die Erzählerin spielt mit mythischen, sagenhaften und christlichen Elementen. Literaturwissenschaftler haben auch hinduistische Anklänge ausgemacht. Die „Brüder Löwenherz“ als Fibel des Synkretismus? Das geht wohl zu weit. Nicht die Religion stand für Astrid Lindgren im Mittelpunkt ihres Romans, sondern die Freiheit. Der Gedanke durchzieht alle ihre Kinderbücher von „Pippi Langstrumpf“ (1945) bis zu ihrem letzten Buch „Ronja Räubertochter“ aus dem Jahr 1981.
Es scheint, als ob die Liebhaberin der Freiheit „ihren“ Kindern und deren Eltern die Freiheit lassen wollte, ihren Glauben und ihre Glaubensbilder zu wählen. Wichtig war ihr, das natürliche Glaubenspotential der Kinder zu stärken und ihnen den Glauben an ein Leben nach dem Tod zu schenken. Wer an etwas oder an jemanden glaubt, dem wird nicht langweilig. Und langweilig waren die Kindheiten im Lindgren’schen Kosmos wirklich nicht.
Wer wie Astrid Lindgren so wertschätzend über die jungen Jahre schreibt, liebt das Kindsein noch im Erwachsenenalter: „Denn alles, worüber ich schreibe, kommt aus meiner eigenen Kindheit ... Ich bin nicht die Spur mehr ein Experte für Kinder, weil ich Kinderbücher schreibe. Ich bin nur überzeugt davon, dass man Kinder wie Menschen behandeln muss“, sagte sie in einem Interview. In „Das entschwundene Land“ erzählt sie über ihre eigene Kindheit auf dem Pachthof Näs ihrer tiefgläubigen Eltern Hanna und Samuel Ericsson, der sich unweit der südschwedischen Kleinstadt Vimmerby befindet: „Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit … Gewiss wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, so wie es damals Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei und nie überwacht.“
Die Bauerntochter, die ihre Wurzeln nie vergessen hat, empfand wohl einen starken Gegensatz zwischen ihrer evangelisch-lutherischen Erziehung und ihrem Freiheitswillen. Trotzdem hat sie die spirituelle Prägung ihrer Kindheit nie losgelassen, wie Anspielungen in ihren Büchern zeigen. Ihr Kinderglaube lag im Widerstreit mit ihrer Intellektualität und der Heillosigkeit der Welt. Und mit der Institution Kirche, wie sie einmal zuspitzte: „Die Kirchen aber – darüber lächelt Gott jeden Tag.“
Auf der einen Seite konnte sie Gott in die Ecke stellen: „Nein, offen gestanden glaube ich nicht an Gott. Freilich, wenn mein Vater noch lebte, hätte ich niemals gewagt, das auszusprechen, denn er wäre sehr traurig geworden. Vielleicht ist es eine Schande, dass ich Gott leugne, weil ich ihm ja trotzdem so oft danke und zu ihm bete, wenn ich verzweifelt bin“. Andererseits war sie überzeugt: „Das Kind als Idee ist das Beste, was der Herrgott erschaffen hat.“
1975 veröffentlichte die unermüdliche Streiterin für die Rechte der Kinder, insbesondere der Flüchtlingskinder, das Gedicht „Wäre ich Gott, dann würde ich weinen über die Menschen, sie, die ich geschaffen zu meinem Ebenbild…“. Es ist ein Klagelied, das die Dichterin gerade nicht als Agnostikerin zeigt, sondern als verzweifelte Gottsucherin. Die letzte Strophe widmet sie den Kindern: „Und dann all die Kinder, alle, alle Kinder, über sie würde ich am allermeisten weinen. Ja, wäre ich Gott, gewiss würde ich viel über die Kinder weinen, denn nie habe ich gedacht, dass sie es so wie jetzt haben sollten. Ströme, Ströme würde ich weinen, damit sie ertrinken könnten in den gewaltigen Fluten meiner Tränen, alle meine armen Menschen, und endlich Ruhe wäre.“
Für Astrid Lindgren mag wohl auch die Erkenntnis gelten: Man glaubt meist mehr, als man denkt.