Einsetzung des PetrusVon Hirten und Schafen

Am 21. Mai 2021 hatte Kardinal Reinhard Marx in einem Brief Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten. Am 10. Juni – für römische Verhältnisse postwendend – bekam er Antwort. Der Papst hat die Rücktrittsbitte des Kardinals abgelehnt. „Weide meine Schafe“ sind die letzten Worte in dem Brief. Seine Erwartung an den Kardinal, dass er sein kirchliches Amt weiterführt, hat der Papst in ein Jesuswort an Petrus gekleidet.

Schafe blöken und sind öfters blöd. Lämmer sind nett und niedlich. Die Assoziationen tun den Tieren unrecht. Aber sie sitzen tief. Zur Mündigkeit erwachsener Christenmenschen passen die Bilder jedenfalls nicht. Bissig und bockig ist gar nicht erst vorgesehen. Noch seltsamer wird es, wenn die Hirten dann keine Funktionskleidung tragen, die nach Arbeit riecht, sondern Gewänder mit Purpur und Spitze, mit denen sie sich möglichst nicht schmutzig machen wollen. Nicht nur bei der Journalistin Christiane Florin ist der Blick auf diese Bildwelt ziemlich scharf geworden. Missstand und Missbrauch sind nicht fern, wo „Hirt und Herde“ ideologisch verwendet werden.

Der Papst will in seiner Antwort an Kardinal Marx nicht etwas über Schafe sagen, vielmehr über das Leitungsamt. Es geht ihm um das „Vermächtnis, das der erste Papst den Päpsten und Bischöfen der Kirche hinterlassen hat“. Konkret wird das in der Frage: Hat Jesus mit seinem Auftrag an Petrus „Weide meine Schafe“ den Primat des Papstes und die Leitung der Kirche durch das bischöfliche Amt gemeint?

Das vom Papst zitierte Jesuswort verwendet eine Bildsprache vom Hirten, die in der Antike nicht nur aus den biblischen Überlieferungen vertraut war. Auch sonst ist „Hirte“ eine Metapher für das Regierungsamt des Königs. Der erste König in der sumerischen Königsliste nach der großen Flut, Etana, erhielt den Titel: „der Hirte, der zum Himmel aufstieg“. Da ein breiter biblischer Traditionsstrom die Herrschaft eines Menschen als König über Israel kritisch sieht, wird die Hirtenmetapher in der Bibel vor allem auf Gott bezogen. So etwa prominent in der Gebetssprache von Psalm 23: Die betende Person wendet sich an Gott als ihrem Hirten. Gott sorgt für die Strukturen, die ihr ausreichende Lebensqualität garantieren – metaphorisch ausgedrückt in „grünen Auen“ und dem „Ruheplatz am Wasser“ (V. 2). Gleichzeitig leitet Gott sie zu umfassender sozialer Verantwortlichkeit an, indem er sie „auf Pfaden der Gerechtigkeit“ (V. 3) gehen lässt.

Eine andere Linie der biblischen Überlieferung kennt die Hirten-Metapher aber auch für menschliche Führung: Mose bittet Gott, dass er jemanden zur Leitung über die Versammlung Israels bestimme, damit die Israelitinnen und Israeliten nicht zu Schafen werden, „die keinen Hirten haben“ (Num 27,17), ein Vers, der an vielen Stellen wieder anklingt (2 Chr 18,16; Judit 11,19), auch bei Jesus: Mt 9,36; Mk 6,34.

David, für die Bibel der König schlechthin, beweist seine Tauglichkeit für das spätere Amt dadurch, dass er bei der Arbeit als Hirte sein Leben aufs Spiel setzt: „Wenn ein Löwe oder ein Bär kam, und ein Lamm aus der Herde wegschleppte, lief ich hinter ihm her, schlug auf ihn ein und riss das Tier aus seinem Maul. Und wenn er sich dann gegen mich aufrichtete, packte ich ihn an der Mähne und schlug ihn tot“ (1 Sam 17,34–35). In den Säulenkapitellen der Basilika in Vézelay ist eindrucksvoll dargestellt, wie David mit seinen Händen an den Zähnen dem Löwen das Maul aufreißt.

Auf diese Stelle spielt auch das Johannesevangelium in der Rede vom guten Hirten an. Dieser Hirte ist genau genommen kalos(Joh 10,11), von schöner Gestalt, wie auch David beschrieben wird (1 Sam 16,12). Im Unterschied zum Mietling gibt der schöne Hirte sein Leben hin für seine Schafe (Joh 10,11.15.17 und 18). Seine Schönheit wird nicht ästhetisch, sondern ethisch verstanden: „Guter Hirte“ ist eine Führungsperson, die ihre Verantwortung an den Grenzen der Bezahlung nicht enden lässt, sondern die bereit ist, in ihrer Verantwortung für Menschen das eigene Leben einzusetzen und zur Not auch dranzugeben.

Das Gespräch zwischen Jesus und Petrus in Joh 21

„Weide meine Schafe“, trägt Jesus Petrus bei der letzten Begegnung mit seinen Jüngern im Johannesevangelium (21,15–17) auf. Die Aufforderung Jesu führt auf die Hirtenrede zurück. Auch bei Petrus geht es um den Einsatz des Hirten-Lebens, wie die Fortsetzung des Gesprächs zeigt (21,18–19). Der Dialog zwischen Jesus und Petrus macht trotz seiner Einfachheit eine ganze Reihe exegetischer Schwierigkeiten. Das Kapitel 21 spricht mit dem Wunder des großen Fischfangs (21,1–14) die missionarische Aufgabe der Jünger an, in dem Dialog mit Petrus (21,15–19) ihre pastorale Aufgabe und in den letzten Versen (21,20–25) die Bedeutung des zuverlässigen Zeugnisses. Dreimal, und jedes Mal variiert, fragt Jesus Petrus, ob er ihn liebe, und dreimal, mit Variationen, fordert er Petrus auf: „Weide meine Lämmer“, „Hüte meine Schafe“ und „Weide meine Schafe“ (21,15.16.17). Das Gespräch weist auf die Verleugnung durch Petrus zurück: Das Kohlenfeuer (nur in 21,9 und 18,18), die dreifach betonte Frage nach Petrus’ Liebe und seine Betrübnis bei der dritten Frage versichern die Leserinnen und Leser, dass in diesem ersten Gespräch zwischen Petrus und Jesus nach der Verleugnung der Auferstandene dem Petrus hier die Tür zur Vergebung öffnet und ihn wieder als Jünger annimmt, indem er ihm den Auftrag des Hirten gibt. Von der „Tür … zu dem Einen, der allein uns retten kann“, schreibt auch Papst Franziskus in seinem Brief an Kardinal Marx. Dazu hat der Papst den Auftrag Jesu in Joh 21 mit dem Eingeständnis des Petrus bei seiner Berufung in Lk 5,8 verbunden: „Denk an das, was Petrus im Angesicht des Herrn hörte, als er ihm auf seine Weise seinen Verzicht anbot: ‚Geh weg von mir, denn ich bin ein Sünder‘ (= Lk 5,8, AW) – und die Antwort hörte ‚Weide meine Schafe‘ (= Joh 21,17, AW).“ Die Kombination ist abenteuerlich. Im Neuen Testament stehen die beiden Sätze jedenfalls nicht zusammen, auch wenn der wunderbare Fischfang nach Lukas bei der Berufung des Petrus enge Parallelen mit Joh 21 aufweist und beide vermutlich Varianten derselben mündlichen Überlieferung sind.

Der Hirtenauftrag in Joh 21

Das Gespräch Jesu mit Petrus in Joh 21 wird oft als biblische Begründung für den Primat des Papstes in Parallele zu Mt 16,19 gesehen, sowohl in der neutestamentlichen Exegese als auch in der Dogmatik, etwa im Weltkatechismus (KKK 553). Ich habe den Abschnitt früher auch so verstanden. Dieses Verständnis des Hirten-auftrags in Joh 21 scheint mir heute aber keineswegs mehr sicher. Gewiss gibt es im Neuen Testament Texte, die die besondere Stellung des Petrus begründen können, aber für den Hirtenauftrag in Joh 21 ist mir inzwischen eine andere Erklärung wahrscheinlicher. Mit dem dreimaligen Fragen nach seiner Liebe und dem dreimaligen Hirtenauftrag stellt Jesus Petrus keine Testfragen, deren richtige Antwort ihn vor den anderen Jüngern auszeichnen soll. Wenn Jesus Petrus beim ersten Mal fragt, ob er ihn „mehr liebt als diese“ (pleon toutôn), dürfte wohl nicht gemeint sein: „mehr als die anderen Jünger Jesus lieben“. Das Demonstrativpronomen lässt sich besser als Neutrum verstehen und auf die Fischereigeräte und Fische beziehen. Die Frage Jesu verbindet das folgende Gespräch mit der vorangegangenen Szene und Petrus’ Entscheidung, zu seinem Fischerberuf zurückzukehren (21,2). Jesus fragt Petrus, wem er sich am Ende verpflichtet sieht. Gleichzeitig bereitet diese Frage auf die Vorhersage von Petrus’ Tod (21,18–19) vor. Mit seinen Fragen und Aufträgen lässt Jesus den Petrus erkennen, was die Liebe zu ihm für den Jünger bedeutet, nämlich für die Menschen, die zu Jesus gehören, so wie Jesus zu sorgen, das heißt, wenn diese Sorge es erfordert, sogar das eigene Leben für die Gemeinde zu lassen. Genauso hatte es Jesus aber nicht nur einem, sondern allen Jüngern aufgetragen: Sie sollen einander so lieben, wie er sie geliebt hat, und diese Liebe für die Rettung der Welt wirksam werden lassen (13,34–35, vgl. 15,12–13; 17,21 u.ö.).

Die Hirtensorge Jesu für die „Seinen“ ist also in der nachösterlichen Kirche nicht exklusiv die Aufgabe eines besonderen Amtsträgers, sondern die Aufgabe der Jüngerinnen und Jünger schlechthin. Ein Jünger, der Jesus liebt, trägt Sorge für die Gemeinde, die Jesus folgt. Petrus wird in diesem Gespräch nicht zum ersten Papst ernannt, sondern den Leserinnen und Lesern als exemplarischer Jünger dargestellt, gerade auch in seinem Versagen, zu dem er steht und das er bewältigt. Das letzte Wort Jesu im Evangelium richtet sich an Petrus, aber es richtet sich mit ihm an die Leserinnen und Leser: „Du folge mir nach!“ (Joh 21,22)

„Weide meine Schafe“ ist ein Auftrag Jesu an alle, die an ihn glauben. Die Missbrauchskrise offenbart sicherlich ein Versagen von Amtsträgern in der Kirche. Man bliebe aber an der Oberfläche dieser Krise, würde man nicht erkennen, dass ihr ein grundverkehrtes Amtsverständnis zugrunde liegt: Amt als exklusive Hirtensorge von Geweihten, die Ungeweihte zu Objekten ihrer Seelsorge machen, statt inklusive Hirtensorge an Mitchristen, die selber zum Hirtenamt ermächtigt werden sollen. Johannes eröffnet diese Perspektive: Die Verantwortung für die Gemeinde, die Hirtensorge, liegt bei den einzelnen Christinnen und Christen und bei den Gemeinden. Sie dürfen ihre Verantwortung um Himmels willen nicht an die Amtsträger delegieren. Oft genug haben auch Ordensgemeinschaften und Gemeinden in der Missbrauchskrise einfach weggeschaut. Will die Kirche aus der Missbrauchskrise lernen, dann müssen Christinnen und Christen sich diese blinden Flecken aus den Augen waschen lassen und mit Freimut gegenüber denen auftreten, die zu Unrecht ein biblisch begründetes Exklusivrecht auf die Sorge um die Kirche beanspruchen.

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