Ich meine: Das Potential dessen, was vom Oktober 1962 bis Dezember 1965 in Textwerkstätten erarbeitet, woran gefeilt, was verworfen und neu getextet wurde, um von den Bischöfen in sechzehn Dokumenten feierlich verabschiedet zu werden, ist längst nicht ausgeschöpft.
Hoffnung macht der Theologin Margit Eckholt dabei Papst Franziskus. „Sein Pontifikat steht für eine neue Phase der Rezeption des Konzils“, schreibt sie in der Herder Korrespondenz. Diese Neuaneignung „lässt die Fragen, Herausforderungen, Ungleichzeitigkeiten und Ambivalenzen einer in die Pluralität von kulturellen, gesellschaftspolitischen und religiösen Konstellationen eingebetteten Weltkirche zu“. Damit bringe Franziskus „Dynamik in das Gefüge der Autorität des Lehramts, in das Spannungsgefüge von Papst und Bischöfen und von komplexen Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen angesichts unterschiedlichster regionaler Dynamiken, kultureller Faktoren und auch pluraler theologischer Positionierungen“.
Franziskus habe die Vision des Konzilspapstes Johannes XXIII. (1958–1963) wiederbelebt: Der wollte ein „Pastoralkonzil“. Es sollte keine Verurteilungen aussprechen, sondern die Kirche nach Jahrzehnten der Abschottung und Ausgrenzung mit der Moderne ins Gespräch bringen. Sein Programmwort dafür lautete Aggiornamento. Anpassung, ja Auslieferung an den „Zeitgeist“ wollten manche darin erkennen. Die verabschiedeten Texte können aber keine Verhandlungsmasse sein, um restaurativen Gruppen entgegenzukommen, die mit Ökumene, Religions- und Gewissensfreiheit oder dem Dialog mit nichtchristlichen Religionen nichts anfangen können.
Das Zweite Vatikanum mit seinen vier Sitzungsperioden wurde zu einem Laboratorium kollektiver Wahrheitsfindung. Eine Bischofsversammlung als Denkwerkstatt, unterstützt von theologischer Expertise. In seiner eigenhändig auf Italienisch geschriebenen, in einer geglätteten lateinischen Fassung vorgetragenen Eröffnungsansprache hatte Johannes XXIII. einen „Sprung nach vorn“ (un balzo innanzi) angeregt. Nachkonziliare Wirren haben daraus ein Echternacher Springen gemacht: einen Schritt vorwärts, zwei zurück. Im Sprung gehemmt (1998) lautete der treffende Titel eines Buchs des Wiener Weihbischofs Helmut Krätzl, der dafür eine Vorladung nach Rom erhielt.
Der Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald sieht es als eine bleibende „Aufgabe der Theologie“ an, in den Konzilstexten vorhandene „Widersprüche nicht zu harmonisieren, sondern sie herauszustellen und Vorschläge zu entwickeln, wie mit ihnen umgegangen werden soll“. Synodalität gehört zum Erbe des Konzils. Darauf setzt unverkennbar Papst Franziskus. Es ist das gemeinsame Suchen nach Lösungen: Bischöfe, Theologinnen und Theologen, Expertinnen und Experten, eben „das Volk Gottes“, das unterwegs ist.
Mit dem Zweiten Vatikanum hat die Kirche nach Karl Rahner aufgehört, eine (europäische) Kirche mit Exporten in alle Welt zu sein. Sie wurde Weltkirche. „Freilich“, so der Jesuit in seiner Münchner Rede bei einem Festakt zum Abschluss des Konzils, „wird es lange dauern, bis die Kirche, der ein II. Vatikanisches Konzil von Gott geschenkt wurde, die Kirche des II. Vatikanischen Konzils sein wird.“ Daran zu arbeiten und dafür zu schuften, lohnt!