Ende Juni, in einem Exerzitienhaus in Dresden. Vorstellrunde für den Studientag „Zwischen Kirchenfrust und Kirchenlust“. Ein Angebot für Exerzitienbegleiterinnen und -begleiter: Was bedeuten meine eigenen Kirchenerfahrungen für den Dienst der Begleitung? Eine junge Frau aus Köln sagt: Ich habe mich angemeldet, weil ich mich einmal aussprechen wollte – in einem Kreis, von dem ich nicht befürchten muss, am nächsten Tag einen Anruf aus dem Ordinariat zu bekommen. Schlagartig sind wir mitten im Thema der Kultur oder vielmehr der Unkultur von Angst im kirchlichen Dienst.
Demütigung, Schikane, Nötigung, Mobbing, Übergriffigkeit gehören, leider, zum kirchlichen Alltag. Sie sind das glatte Gegenteil dessen, was Jesus den Jüngern auf dem Weg nach Jerusalem einschärft: „Bei euch aber soll es nicht so sein“ (Mk 10,43). Doch statt „Fußwaschung“ allzu oft Kopfwäsche: subtile Andeutungen, herabwürdigende Bemerkungen, unsinnige oder widersprüchliche Dienstanweisungen. Statt „Fußwaschung“ Kopfnüsse: körperliche Gewalt.
Es sind 50 bestürzende Zeugnisse heilloser Macht, grausige Fälle, die in diesem von Thomas Hanstein, Hiltrud und Peter Schönheit herausgegebenen Buch geschildert werden. Bezeichnenderweise nur neun mit Klarnamen. Einige Beiträge enden mit dem Vermerk „Autor dem Verlag bekannt“. Die meisten Beiträge bleiben anonym – eine Schutzmaßnahme. Die drei Herausgeber bekennen eingangs: „Dabei schockierte uns das Dramatische, Toxische, Ver- und Zerstörende, Menschen- und Lebensverachtende des inmitten der Kirche Erlebten immer wieder aufs Neue.“
Wer meint, es handle sich bei dem Buch um die Literaturgattung „bösartige, destruktive Kirchenkritik“, irrt. Er sollte den allerersten Satz der Einleitung berücksichtigen: „Nicht Macht als solche – verstanden als Gestaltungswille verbunden mit Gestaltungsfähigkeit in einer definierten Aufgabe mit festgelegten Zielen –, sondern deren heilloser Missbrauch zur brachialen Durchsetzung von Interessen, Regeln und Glaubenssätzen ist das Thema dieses Sammelbandes.“ Die drei Herausgeber betonen auch, dass die hier veröffentlichten Zeugnisse „nicht als Angriffe oder Versuche der Abrechnung mit einzelnen Vorgesetzten“ gelesen werden sollten, sondern als das ernsthafte Bemühen, kirchlichen Machtmissbrauch systematisch anzugehen und unfaire Machtstrukturen zu entlarven.
Demzufolge sind die Zeugnisse vier Themengruppen zugeordnet, die eine erste Systematisierung anbieten: Missbrauch durch die Unfähigkeit zur Gestaltung; Missbrauch durch fehlenden Gestaltungswillen; Missbrauch durch Veränderung der Aufgabe; Missbrauch durch Fokussierung auf andere Ziele. Zur Sprache kommen Einschüchterungsversuche, Distanz und Desinteresse, die „Deutungshoheit“ von Pfarrern, die „Überzeugung einer ontologisch begründeten Allwissenheit und alleinigen Kompetenz“, Priester-Zentriertheit und klerikale Unantastbarkeit, Umgangston und kirchliche „Hackordnung“, Sündenbockmechanismen, hinterhältige Verleumdungskampagnen, die Simulation von Dialog, verweigerte Supervision, konstruierter Loyalitätsmangel, invidia clericalis (geistlicher Neid), sexueller Missbrauch, Ignoranz und Respektlosigkeit, die Kultur des (Be-)Schweigens, Narzissmus, eingeredete Schuldgefühle, Überwachung, Schmeicheleien und Vergünstigungen, Weihestatus und Machtanspruch, Indoktrination, leibfeindlicher Masochismus, Moderne-Feindlichkeit, Gehorsamsfixiertheit, Doppelmoral…
Es kann einem übel werden! Wiederholt habe ich mich beim Lesen gefragt: Woran erinnert mich das? Was davon habe ich selber erlebt? Oder beobachtet? Was habe ich über mich ergehen lassen? Wo geschwiegen? Wo und wie vielleicht indirekt mitgemacht?
Auf 39 Seiten werden wiederkehrende Muster in den Berichten analysiert. Dabei zeigt sich, dass die Verschwiegenheitspflicht eine Willkürpraxis begünstigt. Machtmissbrauch offenbart die Dysfunktionalität vermeintlich gut funktionierender Organisationsstrukturen. Ein kurzer Essay beschließt den Band: „Kirchliches ,Leader‘-Ship? – Oder: Lasst die Hirten im Stall“. Dem Hinweis, „dass eine gute Führungskultur dem Unternehmen auch ökonomisch hilft“, könnte entgegenhalten werden: Die Kirche ist kein Verein, keine NGO. Die Wichtigkeit von Coaching wird aufgezeigt, um „Strategien der Distanzierung aufzubauen, ein selbstbewusstes Gegenüber – Korrektive – zu etablieren“.
Es klingt einfach, vielleicht ist es ja auch so: „Führen muss man wollen, können und dürfen. Vor dem Spiegel moderner Führungsansätze besteht das Drama des Katholizismus darin, dass mit der Ordination eine Kompetenz auf allen drei Ebenen zugesprochen wird.“ Kleriker wären entlastet, würde ihre Weihe wieder mehr auf die liturgische und seelsorgliche Kompetenz fokussiert. Sie müssen jedoch delegieren (wollen). Eine Vision: „Eine Kirche, die den aktuellen Totpunkt als Ausgangspunkt eines Transformationsprozesses über Werte und erst dann über Führungskultur annehmen könnte, hätte als System derzeit in Deutschland hinreichend emsige ,Bienen‘, die zur selbstorganisierten Mitarbeit noch bereit wären.“
Es geht also um einen Umbau von Macht, was auch Machtverlust bedeutet: „Statt Rang und Macht“, so die logische Konsequenz, „siegt dann das beste Argument“. Was Wunder, dass sich der Synodale Weg in Deutschland mit drei Themenblöcken der Thematik stellt: „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“, „Priesterliche Existenz heute“ und „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“. Spirituelle Überhöhungen, auch das zeigt die Lektüre, helfen dabei nicht weiter. Die hier zur Sprache kommenden „Fälle“ sind vermutlich nur ein „Symbol für die Spitze des Eisbergs“. Das Buch will deswegen ermutigen, Anonymität aufzugeben. Es ist ein „Aufschrei wider eine Kirche der Angst“ und das verbreitete Anschwärzen.
Die große Masse der Zeugnisse blieb, wie gesagt, anonym. Ich verstehe das Misstrauen: Mit Diskretion, gar mit Wohlwollen oder Zustimmung kann nicht rechnen, wer Missstände beschreibt und aufdeckt. Darin liegt genau das Problem, das der frühere Lehrer, Bischofsreferent und nebenberufliche Diakon Thomas Hanstein, heute Coach, Berater und Autor, der frühere Banker und Controller Peter Schönheit, heute Coach und Berater, und die Vorsitzende des Katholikenrates der Region München, die Juristin Hiltrud Schönheit, hier zusammengetragen haben.
Wer fragt, wo die Prophetinnen und Propheten unserer Zeit sind – hier sind sie, mitten unter uns! Zu ihnen zähle ich auch Autorinnen und Autoren wie Doris Wagner-Reisinger, Tomáš Halík oder Philippa Rath. Prophetie deckt auf, konfrontiert, warnt, wirbt, erinnert. War Prophetie je bequem? Macht sie beliebt? Ohne Prophetinnen und Propheten wäre die Welt ärmer. Die Kirche(n) auch.
Wer davon spricht, wie heillos Macht sein kann, wird leicht zum Opfer von Mächtigen. Dagegen hilft nur eines: Öffentlichkeit schaffen, Druck machen. Das tut dieses Buch. Und deswegen ist es so notwendig.