Im Heiligen Jahr 2000 besuchte Frère Alois aus Taizé auch in Mecklenburg die Orte, an denen „Nächte der Lichter“ mit Gesängen aus Taizé als Friedensgebete angeboten wurden. Dass er einmal Nachfolger des Gründerpriors Roger Schutz werden würde, der 2005 kurz vor dem Weltjugendtag in Köln niedergestochen worden war, ahnte niemand. Frère Alois kam damals auch zu unserer Jugendgruppe in der Rostocker Christuskirche und fragte nach den schrillen Wandbehängen mit zwei markanten Aufschriften: „Endorphin“ und „Böhse Onkelz“. Wir hatten seinerzeit eine eigene Jugendband („Endorphin“) und setzten uns kritisch mit der Gruppe „Die Böhsen Onkelz“ auseinander. Daraus entwickelte sich ein Gesprächsabend, der in uns allen bis heute nachklingt: Frère Alois schaffte es, auf Augen- und Herzenshöhe Zugang zu jedem einzelnen Jugendlichen zu finden, so dass mancher zum allerersten Mal den Mut fasste, vor einem größeren Publikum aus dem eigenen Leben zu berichten. Kurz gesagt: Vertrauen war in kürzester Zeit gewachsen, obwohl da jemand völlig Fremdes in unser Leben getreten war. Das ist Kirche, wie ich sie mir jeden Tag wünsche: Nicht Selbstbeschäftigung, Selbstabschaffung, Management und Fundraising, sondern Vertrauensbildung!
Roger Schutz gründete „seine“ Gemeinschaft vor genau 80 Jahren. Er stammte aus einer evangelischen Familie, doch in den Kirchen der Reformation suchte man damals ein monastisches Leben vergeblich. So rief er eine Gemeinschaft von Brüdern ins Leben, deren Wurzeln in einer ungeteilten Kirche liegen und im wahrsten Sinne des Wortes ökumenisch sind: Die Communauté. Alles begann 1940, als Frère Roger mit 25 Jahren die Schweiz verließ und nach Frankreich zog, ins Land seiner Mutter. Während des Zweiten Weltkriegs wurde ihm zur Gewissheit, dass er – wie es seine Großmutter während des Ersten Weltkriegs getan hatte – Flüchtlingen und Leidtragenden beistehen müsse. Er ließ sich im kleinen Dorf Taizé nieder, das nahe an der Demarkationslinie lag, die Frankreich damals teilte. Freunde in Lyon gaben seine Adresse an Hilfesuchende weiter. Roger nahm junge Kriegswaisen auf, sonntags luden die Brüder auch deutsche Kriegsgefangene zu sich ein.
Während einer längeren Zeit in Klausur schrieb Frère Roger vor genau 70 Jahren im Winter 1952/53 die endgültige Regel von Taizé, in der er für seine Brüder das Wesentliche zusammenfasste, „das ein gemeinsames Leben erst möglich macht“. Heute lesen alle, die in Burgund eintreffen, folgende Sätze: „Unsere Berufung als Communauté bringt es mit sich, dass wir nur von unserer Hände Arbeit leben und nichts für uns selbst annehmen, weder Spenden noch Erbschaften noch Geschenke. Die Kühnheit, kein Kapital anzulegen, ohne Furcht vor möglicher Armut, verleiht gelassene Kraft.“
In welche Worte kleidet man die Erfahrungen mit jungen Menschen, die in Taizé oder an anderen Orten unserer Einen Weltenfamilie einige Tage damit verbringen, Stille einzuüben, die Bibel zu betrachten, Hand anzulegen beim Kochen oder Putzen, mit jungen Menschen aus fernsten und fremdesten Ländern Dialog zu führen und Brieffreundschaften zu beginnen? Ich nenne dies die schiere Unmöglichkeit, für eine Reise nach Taizé zu werben. Taizé kann man nicht bewerben nach dem Motto: „Dreimal am Tag Gottesdienst! Bibel lesen! Toiletten putzen!“ Nein, Taizé muss man erleben – danach wirbt man selbst darum, dass andere die gleiche Erfahrung machen mögen. Ich habe noch nie einen jungen Menschen erlebt, der nach einer Taizéfahrt unzufrieden gewesen wäre, und genau darin liegt doch wohl die Erfüllung des Bibelworts: „An seinen Früchten werdet ihr die Güte eines Baums erkennen.“ Seit 80 Jahren dürfen wir in den Fußstapfen des Gründers Roger Schutz den Pilgerweg des Vertrauens inmitten einer zerrissenen Welt mitgehen, obwohl uns rechts und links jeder Mitmensch zuruft: „Du darfst niemandem vertrauen!“
Taizé ist ein Sakrament neuen Vertrauens.