Am Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils war man im Vatikan sichtlich um Kontinuität bemüht: Andächtig verweilte Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin zu Beginn des Festgottesdienstes vor dem Glas-Sarkophag des heiligen Papstes Johannes XXIII., der die geschichtsträchtige Kirchenversammlung vor 60 Jahren einberufen hatte und dessen Gedenktag an eben diesem 11. Oktober begangen wird. Vor dem Papstaltar des Petersdomes war der goldene Evangelienthron aufgebaut, der dort auch während der Konzilsversammlungen gestanden und die Bischöfe an ihre Verpflichtung gegenüber dem Wort Gottes gemahnt hatte.
Fraglos will niemand zurück in die Zeit von vor dem Zweiten Vatikanum. Es führte die Kirche zu einem neuen Selbstverständnis – wanderndes Gottesvolk statt makelloser Heilsgesellschaft –, es öffnete sie zu den anderen Konfessionen und Religionen und initiierte eine grundlegende Reform der Liturgie. In den Konzilsdokumenten finden sich Glanzlichter, die eine 180-Grad-Wende der katholischen Kirche in ihrem Verhältnis zum Menschen der Moderne und seiner Lebenswelt markieren – etwa in der Erklärung Nostra aetate (In unserer Zeit): „Jeder Theorie oder Praxis wird das Fundament entzogen, die zwischen Mensch und Mensch, zwischen Volk und Volk bezüglich der Menschenwürde und der daraus fließenden Rechte einen Unterschied macht.“
Allein: Als einer der wenigen westlichen Staaten hat der Vatikan die Europäische Menschenrechtskonvention bis heute nicht ratifiziert. Wie passt das zusammen? Dass Ungleichbehandlungen und Diskriminierung noch immer Raum in der Kirche haben, liegt nicht etwa daran, dass die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht ausreichend umgesetzt wurden. Es müsse zunächst das Erbe des vergangenen Konzils voll ausgeschöpft werden, bevor man über ein neues nachdenken dürfe, heißt es oft (so etwa an dieser Stelle vom Jesuiten Andreas R. Batlogg, vgl. CIG Nr. 41).
Bei aller Hochachtung vor den Errungenschaften des Konzils bin ich der Meinung, dass seine Verklärung angesichts der Konflikte der Gegenwart nicht weiterführt. Das Zweite Vatikanum hat sich als Pastoralkonzil verstanden und wurde ebenso interpretiert. Darin lag seine Stärke – es konnte weitreichende Kompromisse formulieren –, aber auch seine Schwäche: Fundamentale theologische Probleme wurden ausgeblendet statt überwunden. Noch immer herrscht im kirchlichen Rechtsdenken das vera-Prinzip (neben der weltlichen Gleichheit aller steht die „wahre“ Gleichberechtigung vor Gott, die Ungleichbehandlungen durchaus legitimiert oder gar erfordert). Noch immer wird Offenbarung vor allem als übernatürliches Wunder verstanden, anstatt sie an menschliche Erfahrungen rückzukoppeln.
In seiner Predigt beim Jubiläumsgottesdienst mahnte Papst Franziskus die Kirche eindringlich zur Einheit. In anrührenden Bildern forderte er dazu auf, zur „Leidenschaft des Konzils“ zurückzukehren. Die Kirche müsse mondiale (weltlich) werden und ins Tal hinabsteigen, um mitten unter den Menschen zu sein. Bleibt nur die Crux: In seiner betonten Äquidistanz zu „Modernisten“ und „Traditionalisten“, wie er sie nennt, wird Franziskus am Talgrund, wo die Menschen ihr Leben längst ohne die Kirche meistern, kaum ankommen.