Obenan stehen Sorgen um die allgemeine Teuerung, unbezahlbare Wohnungen und eine schlechtere Wirtschaftslage. Während bei den Westdeutschen die Angst vor Inflation größer ist, gibt es im Osten vermehrt Angst vor einer „Überforderung des Staates durch Geflüchtete“. Aber für alle Gegenden und Altersgruppen spielt die Angst vor (weiterem) Wohlstandsverlust eine dominante Rolle. So das Ergebnis der repräsentativen Umfrage „Ängste der Deutschen“.
Wen wundert’s? Man muss kein Marxist sein, um die materiellen Bedingungen des Zusammenlebens hoch zu schätzen. Nicht nur deshalb werden überall „Sicherheitsschirme“ aufgespannt und „Pakete“ geschnürt. Zwar werden auch Ängste, die über den eigenen Lebens- und Lebensstilerhalt hinausgehen, durchaus registriert (besonders Klimakrise und Angst vor Krieg), aber insgesamt geht es doch ums eigene Überleben und mindestens den Erhalt des im Weltmaßstab immer noch priviligierten Status quo mit jener Neigung zum Schwarzsehen, die im Ausland als typisch deutsch gilt.
Angst ist zwar ein schlechter Ratgeber, aber die Nichtbeachtung von Ängsten auch. Und das nicht nur, weil sie wichtige Symptome für reale oder vorgestellte Bedrohungen sind, sondern auch, weil sie ein ungeheures Vorwarnpotential bedeuten und Signalwirkung haben. Warum sonst wittert das Reh am Waldrand, selbst wenn alles im grünen Bereich ist? Entsprechend ernst nehmen die Religionen, jedenfalls die biblischen, diesen Doppelcharakter der Angst. Einerseits ist sie das, was von Gott her prinzipiell schon überwunden ist und entsprechend bearbeitet werden kann: „Ich habe die Angst überwunden“ (Joh 16,33; Mk 4,40), und immer wieder der Aufruf: „Habt keine Angst!“ Aber, wie bei jedem Wagnis, gehört auch zum Glauben und Lieben das mögliche Scheitern. Die biblische Rede von der Gottesfurcht erinnert an den Ernst des Menschwerdens und die Gefahr, Entscheidendes zu versäumen und fällige Veränderungen zu verweigern.
Lesen wir also den Angst-Index der Deutschen und besonders den eigenen als gottgeschenktes Alphabetisierungsprogramm, um unser Witterungsvermögen zu prüfen. Glauben ist ja die Kunst, rechtes sich Ängstigen zu lernen. Auf keinen Fall Spiel mit der Angst oder schwarze Pädagogik, im Gegenteil: Ursachen für Angstverhalten aufdecken und vor allem beängstigende Prognosen ernst nehmen! Und die Angst vor notwendigen Veränderungen aufrichtig zulassen, mit-teilen und also bearbeiten. Es gilt, „endlich“ Mensch zu werden und angesichts der Grenzen des Wachstum womöglich vom bisherigen Wohlstands(steigerungs)modell Abschied zu nehmen – und das aus Liebe zur Erde und zum Gemeinwohl. Heißt Lieben nicht, Angst um jemanden und etwas zu haben? Eine Frau wie Teresa von Ávila hatte ernsthaft Angst um Gott und seine Sache, nichts trieb sie deshalb mehr zur Reform der Verhältnisse. Und wie viele sind heute schon dabei, ihr Verhalten zu ändern und mehr vom Gemeinwohl her zu denken. Zu realistischer Spiritualität jedenfalls gehört diese mutige Angst-Wahrnehmung samt praktischen Folgen zur Umkehr. Schade, dass der Angstindex der Deutschen nur fragt, wovor wir Angst haben – und nicht um was und wen.