"Das Wunder"Glauben statt essen

Im Netflix-Film „Das Wunder“ soll eine Krankenschwester geheimnisvollen Vorkommnissen in einem irischen Dorf auf den Grund gehen.

Im Jahr 1862 werden die Einwohner eines irischen Dorfes Zeugen eines Wunders. Ein junges Mädchen hat ein Fastengelübde abgelegt und soll seit vier Monaten nichts mehr gegessen haben. Sie werde von „Manna vom Himmel“ am Leben gehalten, erklärt die kleine Anna (Kíla Lord Cassidy) den Nachbarn, die kaum glauben können, was hier geschieht. Als die Menschen von immer weiter anreisen, um das Mädchen zu sehen, mit ihr zu sprechen oder sie um ein Gebet zu bitten, schaltet sich auch der Stadtrat ein. Um zu klären, ob es sich hier wirklich um ein göttliches Wunder handelt, werden zwei Frauen beauftragt, Anna rund um die Uhr zu überwachen: eine fromme Nonne und eine Krankenschwester aus dem fernen England. Hollywood-Star Florence Pugh spielt die Krankenschwester Elizabeth Wright, die in erster Linie sicherstellen will, dass Anna keine gesundheitlichen Schäden davonträgt. Und tatsächlich merkt sie bald, dass das Mädchen schwächer und schwächer wird.

Männer haben in dem Film nicht viel zu sagen – vielleicht eine ganz heilsame Abwechslung.

Dass die Krankenschwester ein Fremdkörper in der Dorfgemeinschaft ist, sieht man nicht nur, man hört es auch – jedenfalls in der englischen Originalfassung des Films, die bei Netflix nur einen Klick entfernt ist. „Du verstehst nicht, wie die Dinge hier laufen“, bekommt die Engländerin immer wieder von den irischen Einheimischen zu hören. Der Dorfwirt wird noch deutlicher: „Beweisen Sie einfach, dass das Wunder Unsinn ist, und dann verschwinden Sie!“ Viele in dem kleinen Ort stören sich an den Pilgern, die aus den Städten anreisen, um Anna zu sehen. Doch so einfach ist das nicht – körperlich baut das Mädchen zwar deutlich ab, kann bald nicht mehr selbst laufen. Ihr Geist jedoch ist ungebrochen, sie ist überzeugt, dass Gott sie am Leben hält, wenn sie ihr Fasten fortsetzt. Krankenschwester Elizabeth gerät mehr und mehr in einen Gewissenskonflikt. In einer dramatischen Szene ist sie kurz davor, die hilflos im Bett liegende Anna mit einem Schlauch zwangszuernähren, so wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hat. Doch dann ändert sie ihre Strategie und redet zum ersten Mal ganz offen mit dem Mädchen.

Ab hier entwickelt sich der Film, der mit großformatigen Kamerafahrten durch irische Hügel begann, zu einem Kammerspiel über die großen Rätsel des Glaubens. Wie sieht echtes Gottvertrauen aus? Wie weit sind wir bereit für unseren Glauben zu gehen? Und die vielleicht wichtigste Frage: Wie können wir wissen, was Gott wirklich von uns will? Dabei fällt auf, dass Männer bei der Aufklärung dieser Glaubensfragen nicht viel zu sagen haben – vielleicht eine ganz heilsame Abwechslung zu offiziellen kirchlichen Debatten. In der Dachkammer des Bauernhauses gibt es nur das fastende Mädchen, die Krankenschwester, die Nonne Sister Michael (Josie Walker) und Annas Mutter (Elaine Cassidy), die davon überzeugt ist, dass ihre Tochter von Gott auserwählt ist.

Tatsächlich sind Dutzende Fälle von „Fastenmädchen“ historisch verbürgt. Bis ins 20. Jahrhundert tauchte das Phänomen in vielen westlichen Ländern auf. Das Wunder bezieht sich allerdings nicht auf einen konkreten Fall, sondern spinnt eine eigene Erzählung, in der bald sehr aktuelle Themen angesprochen werden: Fanatismus, Macht und auch Missbrauch. Trotzdem findet der Film – so viel sei verraten – zu einem hoffnungsvollen Ende, und zu einem stillen Einverständnis zwischen der Krankenschwester und der Ordensfrau, die beide das Beste für Anna wollen. Durch die Inszenierung wird dabei sehr klar, dass wir es nicht mit einem historischen Fall zu tun haben, sondern mit einer beispielhaften Erzählung, die nicht an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit gebunden ist. In der letzten Einstellung schwenkt die Kamera aus der Kulisse, zeigt Scheinwerfer und Filmset. Eine sehr bewusste Entscheidung, die an ein Theaterstück denken lässt. An eine Welt, in die man für einen Abend eintaucht und über die man noch lange nachdenken kann. Auch nachdem der Vorhang gefallen ist und wir wieder in die Gegenwart zurückgekehrt sind. „Wir sind nichts ohne Geschichten“, heißt es einmal im Film. „Darum laden wir Sie ein, an diese zu glauben.“


„DAS WUNDER“
USA, Vereinigtes Königreich, Irland, 2022; Regie: Sebastián Lelio; Länge: ca. 100 Min.
Der Film ist beim Streaming-Dienst Netflix zu sehen.

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