Als ich am vergangenen Montag mit einer 9. Klasse ins Gespräch kam, fielen all die Worte, die stellvertretend für die gesamte Resonanz auf die katholischen Nachrichten der letzten Woche stehen: Hat der Papst gelogen? Sagt unser Erzbischof vor Gericht die Wahrheit? Weshalb kann sich dieser kirchliche Mitarbeiter erst jetzt als schwul outen – und verliert er dadurch seinen Job? Als Seelsorger spüre ich einerseits, was für ein Privileg es ist, auch Lehrer in einer Schule sein zu dürfen; ungeschminkt und direkt begegnet mir hier, was ansonsten „hinten herum“ getuschelt wird. Andererseits habe ich Angst, die Jugendlichen mit belanglosen Floskeln abzuspeisen.
Es liegt an uns – gerade jetzt!
Also nehme ich all meinen Mut zusammen und versuche es sehr persönlich und authentisch: Ich bin seit 25 Jahren Priester. Auch mich erschüttert das, was jüngst alles aufgedeckt wurde, sehr. Auch ich frage mich: Kann und darf ich in solch einer Kirche einfach mitmachen? Versündige ich mich, wenn ich Mitglied einer Kirche bleibe, in der so viele unfassbare Verbrechen geschehen sind? Ich entscheide mich hier und heute aber nicht dafür, auszutreten und von außen einzuschlagen auf „die anderen dort (oben)“. Nein, ich bleibe Pfarrer in Billstedt und damit auch Religionslehrer und Seelsorger, weil wir gemeinsam dieser Weltkirche hier und jetzt ein Gesicht geben können, das dem liebenden Anblick Jesu gleicht. Es liegt zuerst an uns, ob Menschen neues Vertrauen in die Kirche gewinnen und in Freundschaft mit Jesus leben werden. Auch wenn im Großen so vieles gegen eine Kirchenmitgliedschaft spricht, können wir uns – vielleicht gerade deshalb! – mit allen Kräften im Kleinen darum bemühen, dass uns die Menschen ihr Vertrauen schenken.
In kleinen Schritten
Wir können an all die Vorzüge erinnern, die eine Weltkirche mit sich bringt – und uns vorfreuen auf das Taizé-Treffen zum Jahreswechsel in Rostock, auf den nächsten Weltjugendtag in Lissabon 2023, auf die nächste Messdienerwallfahrt nach Rom. Klar ist uns aber auch, dass zeitgleich alle Lügen und Verbrechen vollständig aufgeklärt werden müssen.
Am Ende dieser außergewöhnlichen Schulstunde merke ich, dass es auch mir auf diese Punkte ankommt: Authentizität, Glaubwürdigkeit und Vorbildcharakter.
Vor Ort in ganz kleinen Schritten Vertrauen zurückzugewinnen, kann auch eine Chance sein, weil es zugleich eine Zeitreise zurück an den See Genezareth ist: Wie Jesus vor 2000 Jahren authentisch, glaubwürdig und vorbildlich die Herzen der Fischer gewann, so dürfen wir genau dort, wohin uns Gott beruft, heute Menschenfischer sein und neu werden – auch um trotz aller Sünden des Bodenpersonals niemanden um Gottes Liebe zu betrügen.
Und das ist an diesem Abend mein Nachtgebet: „Gott, wie geht es Dir eigentlich heute?“