Gleich ein doppeltes Gedenken war zuletzt in Zusammenhang mit Hildegard von Bingen (1098–1179) zu begehen: Vor zehn Jahren, im Mai 2012, wurde sie heiliggesprochen, im Oktober dann zur Kirchenlehrerin erhoben. Im kommenden Jahr folgt zudem ihr 925. Geburtstag. Anlässe also genug, sich wieder oder neu mit Hildegard zu beschäftigen – wenn es solcher äußeren Impulse überhaupt bedarf.
In jedem Fall ist zur Einführung in ihr Werk diese treffsichere Textauswahl zu empfehlen. Das Schönste daran ist vielleicht, wie farbig und persönlich Hildegard hier über die Jahrhunderte hin neu begegnet. Schwester Maura aus Hildegards Heimatkloster Eibingen bei Rüdesheim – derzeit wohl die beste Kennerin und aktivste Erforscherin von Hildegards Gesamtwerk im deutschsprachigen Raum – gelingt es, die Originaltexte der heiligen Äbtissin selbst sprechen zu lassen. Schwester Maura steuert kluge, einfühlsame und für das Verstehen insbesondere der oft verschlüsselten Bildsprache hilfreiche Kommentare bei.
Als Leser kommt man Hildegard mit dem Band sehr nahe. Das liegt auch daran, dass diese gut vernetzte Frau des Hochmittelalters überraschend oft auch ausdrücklich über sich selbst geschrieben hat: über ihre Berufung und ihre nächsten Mitarbeiter, über ihre zahlreichen Krankheiten und Nöte, über ihre Gefühle und ihre Aufgaben. Wer kennt etwa schon Hildegards Lieblingslied, das sie selbst geschrieben und vertont hat? Beeindruckend ist außerdem, wie konkret und diskret sich die Äbtissin in ihren Briefen an Kolleginnen wie auch an Kaiser äußert.
Im Mittelpunkt des Lesebuchs stehen freilich die zentralen Lehraussagen der „deutschen Prophetin“: ihr Verständnis von Schöpfung und Erlösung, ihr Bild von Welt und Mensch, von Mann und Frau. Offenkundig wird, wie originell Hildegard alles in „Denkbildern“ wahrnimmt und auslegt, und wie sie selbst deren Entstehung reflektiert. Nicht länger sollte man demnach von „Visionen“ sprechen, weil man ja mit dem Begriff meist bloß etwas Subjektives und „Geschautes“, ohne intellektuelle Reflexion, verbindet.
Hildegards spirituelle Kraft zur vielfarbigen Gesamtschau von Gott in Welt ist nachhaltig beeindruckend – und aktuell: rückt doch mit der Gefährdung der Schöpfung bedrängend in den Blick, wie überlebenswichtig es ist, „symphonisch“ zu denken und zu leben, resonanzstark also in und mit allen Dingen, im Ganzen und Einzelnen.
Gerade zu diesem Thema hätten der reichhaltigen Auswahl einige grundsätzliche wie auch konkretisierende Perspektiven gutgetan – ganz im Sinne der Eibinger Akademie für europäische Spiritualität, die sich die Weitergabe dieses geistigen und geistlichen Erbes Europas zum Ziel gesetzt hat. Ebenso wäre die wiederkehrende Diskussion, ob und in welchem Sinne überhaupt Hildegard eine Mystikerin genannt werden kann, eine Notiz wert gewesen. Zudem könnte ein Sachregister – vielleicht ab der nächsten Auflage? – das Lesebuch noch attraktiver machen.