CHRIST IN DER GEGENWART: Das Jahr 2022 neigt sich dem Ende zu. Herr Professor Latif, wie blicken Sie als Klimaforscher auf die vergangenen Monate?
Mojib Latif: Wir hatten auch in diesem Jahr wieder heftige Wetterextreme. Hierzulande sind uns sicher vor allem die sehr hohen Temperaturen im Sommer in Erinnerung. Kaum jemand, der wie ich in Hamburg geboren ist, hätte sich jemals träumen lassen, dass wir hier einmal mehr als 40 Grad messen. Wenn wir in die Welt blicken, hat mich besonders die Flut in Pakistan betroffen gemacht: Ein Drittel des Landes stand unter Wasser, Menschen haben alles verloren, die Ernte wurde vernichtet.
Dass sich solche extremen Ereignisse häufen und intensivieren, ist eine Folge der globalen Erwärmung. Katastrophen wie in Pakistan zeigen zudem die Grenzen unserer Anpassungsfähigkeit und natürlich auch der Finanzierbarkeit auf. So etwas können Sie nicht jedes Jahr und überall auf der Welt kompensieren.
Und wie fällt Ihre klimapolitische Bilanz des ablaufenden Jahres aus? Wurden endlich entscheidende Maßnahmen ergriffen, um den Klimawandel zu stoppen?
Leider nicht, wir gehen immer noch in die falsche Richtung. Wir hatten ja gerade wieder eine Welt-Klima-Konferenz, die 27. inzwischen schon, und trotzdem steigen die weltweiten Emissionen von CO2 weiter. Dass in Sharm El-Sheikh ein Ausgleichsfonds beschlossen wurde – dass also wir als die Verursacher des Klimawandels die Entwicklungsländer entschädigen –, ist doch eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit. Die Details sind aber nicht klar. Mehr wurde nicht erreicht. Was den Ertrag angeht, müssen wir also feststellen, dass diese Welt-Klima-Konferenzen offensichtlich nicht zielführend sind.
Fest steht: Keiner kann das Klima allein durch nationales Handeln schützen. Die Länder müssen das Problem gemeinsam angehen. Vor so einer Herausforderung hat die Menschheit noch nie gestanden. Fest steht aber auch: Wenn es ein Jahr gab, das uns aufgezeigt hat, wie weit wir von einer wirksamen internationalen Kooperation entfernt sind, dann war es dieses Jahr.
Die Welt-Klima-Konferenzen kranken vor allem am Prinzip der Einstimmigkeit: Irgendeiner ist aus wirtschaftlichem Eigeninteresse immer dagegen. Sie schlagen als besseres Format eine „Allianz der Willigen“ vor. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz wirbt für die Idee eines „Klimaclubs“. Was hat es damit auf sich?
Es geht darum, dass sich diejenigen zusammenschließen, die bereit sind, wirksame Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen und ihre Industrie klimafreundlich umzubauen. Das sind aus meiner Sicht zum Beispiel die Länder der Europäischen Union, Großbritannien und die skandinavischen Länder. Sicher, man hätte noch mehr machen können. Aber wir dürfen feststellen, dass in Europa die CO2-Emissionen sinken – während sie weltweit steigen. Gerade Deutschland kann hier eine Führungsrolle übernehmen: Wir haben die Treibhausgase verglichen mit 1990 um fast 40 Prozent gesenkt, obwohl sie weltweit um 60 Prozent gestiegen sind.
Bewirkt es denn genug, wenn nur wir in Europa unsere Klimastandards erhöhen?
Die Idee ist natürlich, dass die „Allianz der Willigen“ weltweit ausstrahlt. Dafür muss sie aber auch ein erfolgreicher Wirtschaftsraum sein und sich gegen Länder wie beispielsweise China wehren, die im Moment noch nichts von Klimaschutz wissen wollen. Wenn es wirtschaftlich attraktiv ist, dazuzugehören, werden wir weitere Länder mitnehmen können, auch die USA nach Donald Trump, Australien … Es braucht dafür einen übergeordneten Ansatz, bei dem Umwelt-, Wirtschafts-, Sozial- und auch Sicherheitspolitik zusammenkommen. Der russische Überfall auf die Ukraine und die daraus folgende Energiekrise zeigt ja in aller Deutlichkeit, wohin es führt, wenn allein wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle spielen.
Sie verweisen in dem Zusammenhang oft auf Indien. Warum kommt dem Land eine besondere Rolle zu?
Ich bin überzeugt, dass das Land so etwas wie der Lackmus-Test für die Welt ist. Indien wird bald der Staat mit der weltweit größten Bevölkerung sein. Zugleich entwickelt es sich rasant. Wenn es dabei aber denselben Weg nimmt wie China oder wir in Europa, nämlich den über die fossilen Brennstoffe, dann können wir alle Klimaziele vergessen.
Wie könnte es anders gehen?
Wenn der politische Wille da ist, kann man eine technologische Phase überspringen. Wir haben das in Afrika gesehen, wo die Menschen vielerorts nie ein Festnetztelefon hatten. Inzwischen gibt es dort eine funktionierende Handykommunikation. Warum sollte also Indien nicht das fossile Zeitalter überspringen können? Viele Menschen haben dort noch überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität. Organisieren wir das jetzt doch gleich nachhaltig und dezentral, mit Sonne und Wind.
Hierzulande wurde zuletzt viel über die Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ gesprochen. Der Jesuit Jörg Alt und die Synode der EKD bekundeten Sympathie, Margot Käßmann äußerte sich ablehnend (vgl. CIG Nr. 48, S. 2). Wie finden Sie den radikalen Protest?
Ich sehe das kritisch, und zwar aus mehreren Gründen. Zunächst einmal: In einer demokratischen Gesellschaft kann es nicht angehen, dass sich jemand über das Gesetz stellt. Der Zweck heiligt eben nicht die Mittel. Zudem sehen wir, dass das Ganze im Ergebnis kontraproduktiv ist. Die Proteste stoßen viele Menschen ab, und es wird überhaupt nicht mehr über Klimaschutz diskutiert, sondern nur noch über die Form des Protestes. Das eigentliche Interesse, die hehren Ziele auch der Aktivistinnen und Aktivisten, gerät so in den Hintergrund. Letztlich finde ich, dass eine solche Protestform die Gesellschaft spaltet. Und gespaltene Gesellschaften – das lässt sich in den USA beobachten – gehen eigentlich nie voran, sondern verharren im Stillstand, weil sich zwei Gruppen gegenseitig neutralisieren und blockieren.
Aber braucht es nicht doch neue Wege, um politischen Druck zu erzeugen? „Fridays for future“ hat ja offensichtlich seinen Höhepunkt überschritten. Wie kommt Bewegung in die Politik?
Nochmal: Wir reden hier von einem globalen Problem. Und deshalb muss man da ansetzen, wo man Möglichkeiten hat, in weltweite Geschehnisse einzugreifen: mit internationalen Kooperationen, etwa mit der beschriebenen „Allianz der Willigen“. Selbstverständlich können wir nicht auf den Letzten warten, sondern müssen in Sachen Klimaschutz vorangehen. Aber ab und zu habe ich das Gefühl, dass manche Menschen glauben, wenn wir es hier in Deutschland erzwingen, dann haben wir das Problem gelöst. Tatsächlich ist dann überhaupt noch nichts gelöst. Wenn China und alle anderen weiterhin Treibhausgase ausstoßen, haben wir in Sachen Klimaschutz nichts gewonnen.
Wie macht man Klimaschutz für Staaten attraktiv?
Mir fallen im Prinzip zwei globale Hebel ein. Der erste ist, dass wir die Finanzströme in Richtung Klimaschutz lenken, also in die neuen Technologien, in erneuerbare Energien, in den Ausbau der Netze und so weiter. Es ist doch gar keine Frage, dass die nächste industrielle Revolution mit diesen Technologien zusammenhängen wird. Das sollte die Politik auch eindeutig sagen und die entsprechenden Rahmenbedingungen setzen. Stattdessen diskutieren wir jetzt wieder über Atomkraft und Gas. So etwas verunsichert Anleger, Investoren brauchen Gewissheit. Hier nicht eindeutig zu sein, ist für mich ein Versagen der Politik.
Der zweite Hebel hat mit Gerechtigkeit zu tun, und damit sind wir bei der Justiz. Ich halte das überraschend klare Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021 für wegweisend. Es hat Teile des Klimaschutzgesetzes der Großen Koalition für verfassungswidrig erklärt, weil diese gegen das Gebot der Generationengerechtigkeit verstießen. Das war ein wichtiges Signal.
Darüber hinaus laufen auch ganz konkrete juristische Auseinandersetzungen, bei denen es darum geht, dass der Ausstoß von Treibhausgasen sanktioniert wird. Schlagzeilen macht derzeit zum Beispiel das Verfahren des peruanischen Bergbauern Saúl Lliuya, dessen Wohnort durch einen schmelzenden Gletscher bedroht ist. Er verlangt nun vom deutschen Stromkonzern RWE, anteilig die Kosten für einen Damm zu übernehmen. Dazu rechnet Lliuya vor, welchen Anteil RWE mit seinen Kraftwerken an der globalen Erwärmung hat. Noch läuft das Verfahren, und RWE wehrt sich auch mit Händen und Füßen, weil man hier keinen Präzedenzfall schaffen will. Aber irgendwann wird so ein Urteil kommen, und dann, glaube ich, werden sich Unternehmen wirklich überlegen: Wollen sie weiter diesen fossilen Weg gehen oder wollen sie nicht doch lieber saubere Energie nutzen und damit – freiwillig oder auch unfreiwillig – den Klimaschutz beschleunigen?
Sie haben deutlich gemacht, dass es beim Klimaschutz vor allem um die großen Zusammenhänge und Dimensionen geht. Kann dann der oder die Einzelne überhaupt etwas Sinnvolles beitragen?
Natürlich, das darf man nicht gegeneinander ausspielen. Warum müssen Autos immer größer werden? Oder kann man nicht gleich unnötige Autofahrten vermeiden? Ich befürworte außerdem uneingeschränkt ein Tempolimit und praktiziere es ohnehin schon. Man muss doch nicht immer warten, bis es eine gesetzliche Regelung gibt. Jedes einzelne Menschenleben, das man durch ein Tempolimit retten könnte, wäre es wert, auf den Autobahnen etwas gesitteter zu fahren. Das Einsparen von Energie käme hinzu und damit die Verringerung des CO2-Ausstoßes.
Aber klar, die Nutzung des Autos hängt natürlich immer auch von der speziellen Lebenssituation ab. Wenn es keine Bahn gibt oder wenn die Bahn immer verspätet ist oder ausfällt, kann man das niemandem zumuten. Hier steht der Staat in der Pflicht. Er muss die entsprechenden Angebote schaffen. Dann hat man ja auch etwas davon, das sollten wir nicht vergessen. Es ginge nicht um Verzicht, sondern um den Gewinn an Lebensqualität. Wenn ich nicht im Stau stehen muss, wenn ich entspannter ankomme, wenn ich geringere Kosten habe, dann bringt mir das doch etwas.
Es gibt viele sinnvolle Dinge, die jede und jeder Einzelne tun kann. Weder die persönliche Energiewende noch der Umstieg auf eine nachhaltige Ernährung sind unzumutbare Härten. Denken Sie daran, dass allein in Deutschland jährlich 11 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen werden. Was für ein Wahnsinn ist das? Das hat doch nichts mit Wohlstand zu tun!
Mich hat sehr berührt, wie Sie in Ihrem neuen Buch fragen: „Wie sonst als krank sollte man eine Welt beschreiben, in der kaum noch rational gehandelt wird und die menschlichen Werte oft nur belächelt werden?“ Warum ist unsere Welt so krank geworden?
Darauf habe ich natürlich auch keine einfache Antwort. Aber ich finde, jeder sollte sich diese Frage stellen, weil dann vielleicht so manche Absurdität in unserem Verhalten deutlich wird. Wieso hat es die Wissenschaft in der heutigen Welt so schwer, überhaupt durchzudringen? Konflikte und Krisen, wo man nur hinschaut. Selbst der Hunger auf der Welt nimmt wieder zu.
Nur ein kleines, konkretes Beispiel: Warum sind diese riesigen Autos so beliebt, in denen oft nur eine Person sitzt? Die SUVs passen ja zum Teil kaum noch durch die Straßen, blockieren die Fuß- und Fahrradwege. Es erschließt sich mir einfach nicht, warum man in der Stadt solche Autos brauchen sollte. Ich habe die Hoffnung, dass, wenn sich viele Menschen diese Fragen stellen, sie dann merken, dass es auch anders gehen würde. Die großen Autos scheinen ja immer noch ein Statussymbol zu sein. Ich brauche kein Statussymbol. Ein Mensch ist doch durch sich selbst wertvoll, nicht durch irgendwelche Produkte. Ich finde, wir brauchen so etwas wie eine kulturelle Revolution, damit die Menschen tatsächlich erkennen, dass wir in einer in weiten Teilen kranken Welt leben. Wir müssen wiederentdecken, was Menschsein ausmacht.
In Ihrem Buch schreiben Sie außerdem: Wir müssen in unserem Denken und Handeln viel radikaler werden, „sonst wird uns der Planet um die Ohren fliegen“. Da könnte man ja zu der Frage kommen: Ist unsere Demokratie überhaupt in der Lage, schnell genug die nötigen Schritte zu organisieren? Oder braucht es angesichts der dramatischen Veränderungen vielleicht doch eine Art „Öko-Diktatur“ im guten Sinne?
Mit „radikaler“ meine ich, dass wir tatsächlich schneller und zielgerichteter handeln müssen. Aber Zwang – Stichwort: Öko-Diktatur – halte ich für falsch. Menschen wollen mitgenommen werden, und zwar in der Breite der Gesellschaft. Deshalb müssen wir Antworten finden, bei denen die Menschen sehen und spüren, dass sie davon profitieren. Ich fand zum Beispiel das Neun-Euro-Ticket sehr gut, weil es sehr vielen Menschen etwas gebracht hat, insbesondere Menschen mit wenig Einkommen. Dass das beim 49-Euro-Ticket genauso funktioniert, bezweifle ich. Denn für viele Menschen sind 49 Euro sehr viel Geld. In jedem Fall muss man bei der Einführung eines solchen Tickets natürlich auch gleichzeitig den öffentlichen Nahverkehr verbessern. Sobald das Hand in Hand geht, werden wir die Menschen gewinnen. Wenn man gute Angebote schafft, machen die Menschen das von alleine. Da braucht es keinen Zwang.
Im Sinne des Lockens oder Werbens könnten auch die Religionen einiges leisten, wenn sie denn gemeinsam für die Bewahrung der Schöpfung ihre Stimme erheben würden…
Ja, absolut. Das ist ihr ureigenes Thema. Ich finde, das, was „Fridays for Future“ macht, sollten die Kirchen und Religionsgemeinschaften machen. Dann hätten wir eine viel größere Reichweite. Gut, Papst Franziskus hat eine Umwelt-Enzyklika geschrieben, die viele Dinge anspricht, die ich auch vertrete, etwa gerade das Problem der Klima-Ungerechtigkeit. Aber das reicht nicht. Wo bleibt der Aufschrei der Kirchen und Religionen? Sie müssten viel stärker auf das Thema hinweisen.
Wir sind im Advent, in einer Zeit der Erwartung und Hoffnung also. Was gibt Ihnen Hoffnung, dass wir Menschen vielleicht doch noch lernfähig sind?
Vorweg: Wir hatten ja vor 50 Jahren die erste Ölkrise. Daraus haben wir offensichtlich nichts gelernt. Da frage ich mich als Wissenschaftler dann schon, ob die Menschen überhaupt lernfähig sind oder den Planeten am Ende doch gegen die Wand fahren. Aber vielleicht ist es ja in der aktuellen Energiekrise, die wir infolge dieses schrecklichen Krieges haben, anders als vor 50 Jahren. Ja, im Moment gehen wir rückwärts: Wir versuchen, von allen Seiten Gas zu bekommen, wir verlängern die Kohlenutzung und reden wieder über Atomkraft. Aber im Grunde realisieren wir jetzt womöglich wirklich, dass die fossilen Energien ein Irrweg sind. Und zwar aus ganz verschiedenen Gründen: wegen des Klimas, wegen der wirtschaftlichen Dynamik, der inneren und äußeren Sicherheit … Ich habe die Hoffnung, dass wir deshalb am Ende sogar schneller werden beim Klimaschutz, weil sich immer mehr Länder den erneuerbaren Energien zuwenden.
Bei aller Sorge vor der Apokalypse überwiegt bei Ihnen also doch noch die Zuversicht?
Der feste Glaube an eine gute Zukunft ist eine notwendige Voraussetzung, um eine Klimakatastrophe zu verhindern. Wir brauchen einen Aufbruch. Ohne Optimismus und Enthusiasmus wird uns der Antrieb fehlen, die Dinge energisch anzugehen und zum Besseren zu wenden.
Der Meteorologe
MOJIB LATIF (68) ist Professor am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Er ist unter anderem Präsident der deutschen Gesellschaft des
Club of Rome sowie Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Zuletzt erschien von ihm „Countdown. Unsere Zeit läuft ab – was wir der Klimakatastrophe noch entgegensetzen können“ (Verlag Herder, Freiburg 2022).