12 Momente aus 12 MonatenWas wir erinnern

Der Jahresrückblick.

Für den Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann liegt die Erfindung der Religion und letztlich der Ursprung unserer Kultur im Erinnern, im Andenken gegen den „Schock des Vergessens“ (Das kulturelle Gedächtnis, 1992). Erst indem sich der Mensch seiner eigenen Geschichte, seiner Erlebnisse und Beziehungen bewusst wird – über die eigene Lebenszeit hinaus –, ist er er selbst. Mit gutem Grund ruft die christliche Totenliturgie in ihren Gebeten und Gesängen die memoria aeterna (ewige Erinnerung) als Trostbild auf: Wo menschliche Erinnerung versagt, möge in Gottes Andenken alles gegenwärtig bleiben.

Eine Institution, die uns alljährlich ans Erinnern erinnert, sind die Jahresrückblicke in Fernsehshows und Zeitungen. Was man als nachträgliche Emotionalisierung vergangener – und nicht mehr zu korrigierender – Ereignisse abtun mag, trägt doch auch dem Ausspruch des Philosophen Søren Kierkegaard Rechnung: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. So hat die Redaktion an Stelle der üblichen „7 Momente“ zum Jahresende zwölf zusammengetragen – die zweifellos nicht mehr als Schlaglichter sein können.

1 | Januar. Zu Beginn des Jahres ist die Welt noch immer fest im Griff der Corona-Pandemie. Während sich die Niederlande im Lockdown befinden, dürfen in Deutschland Geschäfte, Gaststätten und Kultureinrichtungen unter Auflagen geöffnet bleiben. Inzwischen sind mehr als 60 Millionen Deutsche vollständig gegen das Virus geimpft. Trotzdem überschreitet die bundesweite 7-Tage-Inzidenz wegen der hochansteckenden Omikron-Variante erstmals seit Ausbruch der Pandemie die Tausendermarke.

2 | Februar. Kein Ereignis überschattet das Jahr so sehr wie der Überfall Russlands auf die Ukraine. Mit dem Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar tritt ein, was seit Jahrzehnten außerhalb des Vorstellbaren schien: Erneut herrscht Krieg auf europäischem Boden. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die USA und zahlreiche weitere Nationen reagieren mit scharfen Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht in seiner Regierungserklärung von einer „Zeitenwende“. Schätzungen zufolge kostet der Krieg bis Jahresende mindestens 41 000 Menschen das Leben. Rund 14 Millionen befinden sich auf der Flucht.

3 | März. Durch den Ukraine-Krieg steigen die Energiekosten. In Deutschland erreicht der Spritpreis ein Allzeithoch: Ein Liter E10-Bezin kostet zeitweise mehr als 2,20 Euro. Die Bundesregierung berät über ein Entlastungspaket, als Teil dessen erstmals die Idee eines deutschlandweiten 9-Euro-Tickets aufkommt.

4 | April. In der Fastenzeit hat André Lorenz mit der Versuchung gekämpft, aus der Kirche auszutreten. Dass sich angesichts der Skandale und der fehlenden Reformschritte inzwischen sogar Menschen aus dem Inner Circle unserer Pfarreien verabschieden, ist bittere Realität. Auch der Generalvikar der Diözese Speyer, Andreas Sturm, verlässt in diesem Frühjahr die katholische Kirche. Unser Kreativberater kommt zu einer anderen Entscheidung: Am Palmsonntag erscheint die letzte Folge seiner Serie, in der er verkündet: „Ich bleibe.“ Damit ist die Reihe freilich nicht beendet. Sie, liebe Leserinnen und Leser, nehmen sehr lange und intensiv weiterhin Anteil an diesem Ringen. Auf Ihren Wunsch hin haben wir all das in einem Sonderdruck zusammengestellt, von dem es noch einige letzte Heft gibt. Das Einzelexemplar kostet 3,95 €. Bestellung und Download unter www.christ-in-der-gegenwart.de/sonderdrucke oder unter 0761-2717-200.

5 | Mai. Das Theologenpaar Gabriele und Peter Scherle veröffentlicht im Feuilleton der FAZ ein Plädoyer gegen eine „harmlose Lesart des Evangeliums“. Sie kritisieren, dass allzu oft und allzu schnell vom lieben Gott gesprochen werde. Auch im CIG wird daraufhin intensiv diskutiert, wie die Liebe Gottes und die Realität des Bösen gedanklich zusammengebracht werden können. Seit dem Stuttgarter Katholikentag finden diese Debatten übrigens im neuen CIG-Layout statt, das von Ihnen sehr positiv aufgenommen wird.

6 | Juni. Am Pfingstsonntag stirbt CIG-Redakteur Jürgen Springer nach langer, schwerer Krankheit. Wir sind geschockt und trauern – und wissen uns mit dem Kollegen und Freund auch nach seinem Heimgang verbunden.

7 | Juli. Ein anonymes Schreiben aus dem Vatikan sorgt für Aufregung. Die Erklärung redet den Verfechtern des Synodalen Weges barsch ins Gewissen: Die deutsche Kirche dürfe keinen Sonderweg einschlagen, die Hierarchie müsse gewahrt bleiben. Fachleute diskutieren, wer hinter dem geheimnisvollen Schreiben stecken könnte und inwieweit der Brief die Meinung von Papst Franziskus wiedergibt. Andere, wie der Philosoph und Jesuit Godehard Brüntrup, wollen dem Text keine zu große Bedeutung beimessen: „Je mehr man darüber diskutiert, umso mehr ist man schon in die Falle getappt.“

8 | August. Im Sommer brennen in Europa die Wälder. In Spanien, Frankreich und Teilen Portugals richten die Feuer die schlimmste Zerstörung seit Beginn der Aufzeichnungen an. Zehntausende Hektar Wald gehen verloren, tausende Menschen müssen ihre Häuser räumen. Mit aller Deutlichkeit wird klar, dass sich die Folgen des Klimawandels nicht auf ferne Kontinente beschränken werden.

9 | September. Mit der elften Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen ist die Welt zu Gast in Karlsruhe: 4000 Gäste aus 352 Mitgliedskirchen. Schwerpunktthemen sind Friede – und Liebe. Im Begleitheft heißt es: „Liebe ist ein Gebot Christi, nicht etwas, das uns einfach passieren kann. Es geht dabei um Politik, um unser Handeln und um sorgfältiges Nachdenken genauso sehr wie um unsere Gefühle.“

10 | Oktober. Der „goldene“ Oktober bringt nicht nur mildes Wetter, sondern auch eine große Rotation in den Regierungen europäischer Länder. Nach nur sechs Wochen Amtszeit und heftigen Kontroversen tritt die britische Premierministerin Liz Truss zurück und wird durch den ersten hinduistischen Premierminister in der Geschichte des Vereinigten Königreichs ersetzt, Rishi Sunak. Noch mehr Aufmerksamkeit erfährt Italien: Giorgia Meloni ist nicht nur die erste Frau an der Spitze der Regierung, diese Regierung ist auch noch stramm rechts und europakritisch.

11 | November. China hatte lange Zeit eine strikte Null-Covid-Politik verfolgt; Staatspräsident Xi Jinping, gerade erst für eine ungewöhnliche, dritte Amtszeit bestätigt, sieht die Fortführung dieser Politik als persönliche Angelegenheit. Doch nach dem fatalen Brand eines Hochhauses in Ürümqi kommt es zu den größten Protesten gegen die Regierungspolitik seit 1989. Auch in Iran setzen sich die Proteste gegen die islamische Regierung fort, die nach dem Tod Mahsa Aminis ausgebrochen waren. Beide Regime reagieren mit Härte, aber auch taktischen Zugeständnissen.

12 | Dezember. Im Kampf gegen den Klimawandel stehen erneut die Wälder im Fokus. Kanada beschließt, die Sorge um die riesigen Baumbestände des nordamerikanischen Landes vermehrt in die Hände indigener Völker zu geben. Diese hätten ein profundes Wissen um das Ökogleichgewicht in einem der größten Waldgebiete der Erde. Damit will Kanada nicht nur seine Klimaziele schneller erreichen, sondern auch die Aussöhnung mit Ureinwohnern wie den Cree vorantreiben.

 

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