Europäische Union und KatholizismusNicht ohne die Anderen

Vor 30 Jahren wurde mit dem Vertrag von Maastricht die Europäische Union gegründet – ein Meilenstein einer zutiefst katholischen Entwicklung.

Es war ein europäischer Meilenstein: Vor genau 30 Jahren, am 7. Februar 1992, unterzeichneten Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Spanien und das Vereinigte Königreich den Vertrag von Maastricht. Damit wurde die bewegte Geschichte europäischer Einigungsbemühungen, die vertraglich erstmals in den Römischen Verträgen von 1957 Gestalt angenommen hatte, in einem umfassenden gesetzlichen Regelwerk ratifiziert. So entstand die Europäische Union (EU). Sie entwickelte einen verbindlichen institutionellen Rahmen für die Zusammenarbeit und Weiterentwicklung der europäischen Gemeinschaft.

Auch dass der Vertrag über eine Verfassung letzten Endes nicht ratifiziert wurde (2004), hielt diesen Prozess nicht auf, weil Integration und Zusammenarbeit im Vertrag von Nizza (2001) dadurch gestärkt werden konnten, dass das Europäische Parlament eine größere Kompetenz erhielt und die Charta der Menschenrechte unterzeichnet wurde. Den vorläufigen Abschluss dieses Prozesses stellt derzeit der Vertrag von Lissabon dar (2007), mit dem die Rechte des Parlaments und die Mitsprache der Bürger der EU wuchsen.

Der Vertrag von Maastricht erinnert in der Präambel an die Bedeutung der Integration Europas, er bestätigt das Bekenntnis zu den Grundsätzen von Freiheit, Demokratie und der Achtung der Menschenrechte sowie Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit, mit dem Ziel von mehr Solidarität unter den Völkern in Achtung vor ihren Unterschieden.

In Lissabon wird ein zweiter Erwägungsgrund ergänzt: „Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.“

Präambeln von Verfassungen sind keine rhetorischen Floskeln, sondern machen bewusst, dass Überzeugungen und Werte, die als Verfassungsrechte und gesetzlich formulierte Spielregeln Verbindlichkeit erlangen, von vorpolitischen Bedingungen nicht nur in ihrer Genese, sondern vor allem in ihrer Akzeptanz abhängen. Der genannte Erwägungsgrund erinnert nicht nur daran, sondern hält auch fest, dass Europa von einer konstitutiven Pluralität von Quellen lebt, sowohl religiösen als auch kulturellen und humanistischen. Insofern ist es vielleicht auch nicht nur zu kritisieren, dass das Wort „Gott“ nicht in den Vertragswerken erscheint. Mit diesem Wort ist in der europäischen Geschichte kaum die Anerkennung von konstitutiver Pluralität verbunden worden.

Wie kann aber Pluralität sich fruchtbar auswirken? Als die Leitorientierung zum Zusammenhang von freiheitlichem Rechtsstaat und vorpolitischen Bedingungen darf wohl das sogenannte Böckenförde-Dilemma gelten: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Frankfurt a.M. 21992, S. 112). Auch dieses Diktum spricht im Plural, von Voraussetzungen. Damit könnte gemeint sein, dass die verschiedenen Traditionen sich einbringen und erst von der politischen Macht integriert und miteinander verbunden werden. Dann wäre das Dilemma nicht gelöst. Es ist daher notwendig, dass schon in der Lebenswelt Pluralitätsfähigkeit entwickelt werden muss, die neben der sozialen Verwicklung auch der unaufhebbaren Kontingenz zu begegnen vermag, wie der Wiener Philosoph Wuchterl die menschliche Grundaufgabe ausdrückte.

Die gelebte soziale Pluralitäts- und Kontingenzfähigkeit sollte nicht nur in der Entwicklung von Toleranz bestehen, sondern in der Erfahrung wurzeln, dass Pluralität allein gutes Leben ermöglicht.

Die gelebte soziale Pluralitäts- und Kontingenzfähigkeit sollte aber nicht nur in der Entwicklung von Toleranz bestehen, sondern vor allem in der Erfahrung wurzeln, dass Verschiedenheit und Pluralität allein gutes Leben ermöglichen. Theologisch in monotheistischer Tradition gesprochen: Pluralität und Verschiedenheit sind gottgewollt. Die ursprüngliche Idee von „Katholizität“ habe ich immer in diesem Sinne gedeutet und ansatzhaft erfahren.

Aber – darf man „katholisch“ heute noch in den Mund nehmen, ohne sich schämen zu müssen? Versuchen wir zunächst die Herausforderung von Katholizität zu umreißen, bevor wir diese Idee verwerfen. Mir scheint, dass „Katholizität“ zwei sich korrigierende und ergänzende Aspekte aufweist: „Nicht Entgegensetzen“ und „Nicht ohne die anderen“. Ohne Zweifel war unter den Quellen, aus denen Kraft und Ideen zur europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich mitgenährt worden sind, auch jene Katholizität, die nicht allein eine transnationale Form von gesellschaftlicher Identität zu pflegen, sondern die Wurzel sozialer Identitätsbildung des Menschen grundsätzlich zu transformieren versuchte. Schon in der Gründung des europäischen Einigungsprozesses ist „Katholizität“ weit mehr als „römisch-katholische Kirche“.

Der Jesuit Henri de Lubac hat diese Idee, die immer Ziel und Herausforderung, nie sicherer Besitz und bleibender Habitus sein wird, so ausgedrückt: „Der Katholizismus ist die Religion. Er ist die Form, die die Menschheit annehmen soll, um endlich sie selbst zu werden. Er ist die einzige Wirklichkeit, die, um zu sein, es nicht nötig hat, sich entgegenzusetzen, also alles andere als eine ‚geschlossene Gesellschaft‘“ (Glauben aus der Liebe. Einsiedeln 1992, S. 263). Damit ist Zusammenschluss durch Negation, Ausschluss und, wie René Girard es analysierte, Sündenbockmechanismen als jene fatale Logik entschlüsselt, mit denen wir die Begierde- und Gewaltstrukturen menschlicher Sozialität mit ihrer impliziten Gewaltträchtigkeit zu bändigen suchten.

Wenn ich mir mit diesem Blick die Geschichte Europas kurz vor Augen halte, dann komme ich zur Überzeugung, dass wir den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollten. Die Unversöhnlichkeit der in Konfessionen gespalteten Christenheit hat die humanistisch-aufklärende Dynamik überwunden oder mindestens entschärft. Als die Aufklärung aber selbst in der Französischen Revolution an die Macht kam, folgte dem Tag einer Religion der Vernunft nach der Abschaffung des Christentums ein Terror, der als Schöpfung des neuen Menschen moralisch und aufklärerisch legitimiert wurde. Seine Folgen reichen bis 1989, ja bis heute. Diese Selbstzerstörung konnte der wahre Gott der Revolution, der Nationalismus, zunächst nur deshalb etwas eindämmen, weil er unter der Fahne der Werte der Revolution ganz Europa mit Krieg überzog und die Militärdiktatur Napoleons errichtete. Mit diesem Nationalismus, der religiös überhöht wurde und auf diese oder andere Weise alle Völker ansteckte und als politischer Exportschlager Europas bis heute sein süßes Gift verbreitet, wurde die alte Logik nicht überwunden, vielmehr verschärft. Nachdem die Religion als Kitt der Gesellschaft nicht mehr dienen konnte, kam jene neue Disziplinierung, die in die Katastrophen des Ersten und Zweiten Weltkriegs führte: die Wehrpflicht und der Militarismus. Krieg wurde zum Gottesdienst, das Schlachtfeld der Altar, auf dem ganze Generationen geopfert wurden.

In den Trümmern dieser Entwicklung erwuchs die Idee einer europäischen Integration, die den Werten der Revolution verpflichtet blieb, aber die Schattenseiten nicht verdrängte. „Nicht Entgegensetzen“ erwies sich als zu wenig, weil sie zu Gleichgültigkeit führen konnte und heute zu nationalen Alleingängen mit der Forderung auf Toleranz einlädt. Ein anderer Jesuit, Michel de Certeau, hat das zweite Element der Katholizität in dem Leitwort ausgedrückt: „Nicht ohne die anderen …“ (in: „GlaubensSchwachheit“). Die grundlegende Sozialität des Menschen, die Aristoteles beschrieb und durch Ebner und Buber als dialogisches Prinzip weitergeführt wurde, ist nicht nur offen auf die eigene Familie oder Gesellschaft, sondern prinzipiell auf alle, und zwar in ihrer bleibenden Verschiedenheit.

Katholizität ist jene Lebensidee, die sich nicht nur nicht entgegensetzen muss, sondern aus der Erfahrung lebt, dass ohne alle anderen in ihrer bleibenden Verschiedenheit gelingendes Leben nicht möglich ist.

Katholizität ist also jene Lebensidee, die sich nicht nur nicht entgegensetzen muss, sondern aus der Erfahrung lebt, dass ohne alle anderen in ihrer bleibenden Verschiedenheit gelingendes Leben nicht möglich ist. Aus dieser Erfahrung erwächst die Einsicht, dass wir alle, wie es Marcel Mauss herausarbeitete, grundsätzlich von einer Gabe leben, nicht aus der eigenen Leistung. Eigenes Tun und Vermögen setzt immer Gegebenes voraus, das wir als Gabe empfangen haben. Die darin gedeihende Haltung der Dankbarkeit wird das Herz jener mystischen Erfahrung sein, aus der der Glaube der Zukunft leben wird.

Doch unsere Erfahrungen sind nicht so, vor allem nicht heute angesichts des Desasters unserer Katholischen Kirche. Dieses Desaster aber lässt sich mit dem Kriterium der hier entwickelten „Katholizität“ gut analysieren. Nicht nur die Kirche, auch die einzelnen Lebensgruppen und Leitungsgremien haben als geschlossene Gesellschaft agiert und nicht konstitutiv die anderen in ihr Selbstverständnis einbezogen, vor allem nicht die Geschädigten. Wir sollten uns nicht wundern, dass das Gericht am Hause Gottes beginnt (1 Petr 4,17).

Papst Paul VI. könnte mit seiner Idee, dass die Kirche selbst zum Gespräch werden solle (Ecclesiam suam 65, 76), bis heute fruchtbar wirken. Viele Entgegensetzungen hat das Konzil deshalb zu überwinden begonnen: die gegenreformatorische Haltung mit dem Eintritt in den ökumenischen Dialog, den politischen Antimodernismus in der Anerkennung der Religionsfreiheit und vor allem die unsägliche Tradition des christlichen Antijudaismus in der Erklärung zum Judentum. In allen diesen Transformationen wird aber die Grundüberzeugung von der Universalität der Gnade Christi deutlich. Gott führt einen Dialog des Heils mit allen Menschen. Deshalb ist die Kirche nicht Wirkursache des Heils, sondern Zeichen der universalen Liebe Gottes, wenn auch immer nur schattenhaft (LG 8).

Die hier gemeinte Katholizität ist keine Konfessionsbezeichnung. Sie könnte auch als universaler Humanismus im Geist des Evangeliums bezeichnet werden. Sie besteht in dem Wagnis, mit den Augen Gottes sehen zu lernen. Weil Gott ein Freund des Lebens ist (Weish 11,26) und Mitliebende will (Duns Scotus), bestehen Auftrag und Sendung der Kinder Abrahams darin, die dritte Verheißung, die eine Aufgabe darstellt, zu leben: Werdet zum Segen für alle Völker (Gen 12,3). Wie kann das aber möglich werden, in einer so komplexen und radikal sich transformierenden Welt – und vor allem angesichts des Gegenzeugnisses, das die Kirche derzeit gibt? Die Schwäche der Kirche könnte ihre Stärke werden, wenn sie sich nicht über andere erhebt, sondern durch ihren Mut zur Erneuerung und Reform selbst ein lebendiges Zeugnis der täglichen Umkehr wird. Vielleicht schwächt der Herr der Geschichte seine Kirche, damit sie immer mehr zu dem wird, was sie sein soll: geheiligtes Zeichen in menschlicher Schwäche. Sie könnte dann als Anwältin der Transzendenz und des Menschen ihre alten Unterscheidungen neu einbringen.

Die Differenz von Glauben und Vernunft impliziert eine wechselseitige Korrektur und eröffnet jenes Spannungsfeld, das beide Dynamiken davor bewahrt, totalitär zu werden. Ohne diese Differenz ist nach Jürgen Habermas die europäische Philosophiegeschichte nicht zu verstehen. Der Glaube wird der Vernunft in Form der Wissenschaften zumuten, dass sie nicht die letzten Rätsel der Welt gelöst, den Menschen nicht vollkommen erkannt hat und deshalb das Wissenschaftssystem warnt, die vollendete Manipulation des Menschen in der Hoffnung auf virtuelle Unsterblichkeit zu verheißen.

Die Vernunft aber wird auch weiterhin dem Glauben seine Grenzen zumuten. Beide haben, wie Joseph Ratzinger es ausdrückte, je auf ihre Weise am Zweifel Anteil. Gott ist kein Eigentum der Kirche. Die letzte Antwort auf den Ursprung und das Ziel aller Wirklichkeit steht in der Geschichte immer aus und kann höchstens in Zeichen vorweggenommen aufscheinen. Die daraus resultierende Spannung könnte dazu bewegen, der Kon- tingenz, die nie überwunden werden kann, so zu begegnen, dass die alten Geister der nationalen Selbstzerstörung nicht wieder genährt werden.

In Wahlkämpfen und in Krisen wird von der Politik Sinnstiftung und Lebensorientierung erwartet. In diesem funktionalen Sinne ist Politik ohne Religion unmöglich.

Der säkulare Staat trägt das Risiko, das er um der Freiheit willen eingegangen ist, nicht so einfach durch. Denn in Wahlkämpfen und in Krisen wird von der Politik Sinnstiftung und Lebensorientierung erwartet, und medial werden immer wieder Retter produziert. In diesem funktionalen Sinne ist Politik ohne Religion unmöglich. Es ist nicht überraschend, dass in Krisenzeiten die alten Nationalismen wieder entstehen. Es ist schon längst überfällig, dass sich die katholische Kirche von diesen Bewegungen distanziert. Für Joseph Kleutgen war der Nationalismus die Urhäresie der Moderne. Der europäische Integrationsprozess hat nicht den Essentialismus der Nation zur Klammer der Gesellschaften erkoren, sondern einen Stil der Kommunikation und des Interessenausgleichs. Als Christgläubige sollten wir diese gewaltfreien und offenen Kommunikationsprozesse als Problemlösungsverfahren in ihrem prinzipiellen Kompro- misscharakter nicht geringschätzen, weil sich in diesen Prozessen meiner Ansicht nach die Toraregel Jesu operationalisiert: „Liebe Gott und Deinen Nächsten wie Dich selbst“! Wenn aber Gott nicht geliebt werden kann, weil die Gabe des Glaubens nicht gegeben oder verloren gegangen ist, dann sollten wir mit der Liebe zum Nächsten und zu uns selbst beginnen, aber diese Zuordnung nicht umkehren. Die eigenen Interessen wahrt auf Dauer nur, wer zuerst die Interessen und Bedürfnisse der anderen aufnimmt.

Für diese Prozesse der Anerkennung und Integration ist für mich eine Aussage aus der Mystik der Gründerin der Fokolarbewegung immer wichtiger geworden. Chiara Lubich schreibt in ihrem Fragment („Tutti i fiori“): „Aber wir müssen es verstehen, Gott in uns für Gott in den Geschwistern zu verlieren. Und dies tut, wer Jesus den Gekreuzigten und Verlassenen kennt und liebt.“

Die in diesem Zeugnis liegende Dynamik, Gott zu verlieren, ist zwar aus der klassischen Mystik gut vertraut, aber nicht so radikal mit dem anderen verbunden. Zudem wird das christliche Zeugnis und damit auch der Dienst der Kirche nicht über die Vollmacht des Auferstandenen begründet, sondern in der Ohnmacht des Verlassenen gegründet. Damit ist die Vollmacht nicht negiert, aber sie wird ganz und gar als eine Gabe vom anderen her möglich. Wenn die Kirche in der anhaltenden Aufarbeitung des Missbrauchs den Mut behält, sich ganz vom anderen her neu empfangen zu können, dann kann sie auch zu einem Zeichen in Europa werden, das wieder neu vom süßen Gift des Nationalismus bedroht wird.

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