Die religiöse Schwindsucht hat sich weit über Europa hinaus zu einer bisher noch wenig beachteten Pandemie entwickelt. Sie hat die frommen Vereinigten Staaten ebenso wie das katholische Lateinamerika oder das pfingstlerisch-freikirchlich beschwingte Afrika erfasst. Viele, die ihre angestammte Glaubensgemeinschaft verlassen, wenden sich keineswegs einer anderen religiösen Gruppierung zu, sondern verschwinden ins religiöse Niemandsland. Nach Christentum, Islam und Hinduismus bilden die Religions- und Konfessionslosen nominell mit rund einer Milliarde Personen inzwischen die viertgrößte „Weltreligion“. Wo Gott seine Plausibilität verliert, wirken die angeforderten strukturellen Kirchenreformen – von der Abschaffung des für Priester verpflichtenden Zölibats über Mitbestimmungsrechte für Laien bis zur Umwertung der als zu streng empfundenen biblisch-christlichen Sexualmoral – allenfalls als Kosmetik.
Von Natur aus religiös?
Noch stärker als die Kirchenaustritte beunruhigt der Zweifel, ob der Mensch wirklich von Natur aus religiös ist. Könnte es sein, dass das „Gottes-Gen“, das den Menschen einst in seinem Denken und Fühlen zu einer entsprechenden Wahrnehmung befähigte, sich aus der Vererbung „herausmendelt“, dass es im Prozess der Menschheitsevolution allmählich verloren geht? Von „anonymen Christen“ zu sprechen, worunter sogar Anhänger anderer Religionen als universal in Christus Erlöste verstanden wurden, fällt ebenfalls immer schwerer. Jetzt tritt wieder die faktische Diversität ins Bewusstsein, die grundlegende Geteiltheit, Verschiedenheit, das Getrenntsein. Denn das meint „Diversität“ zuerst, nicht einfachhin das Konstrukt einer harmonisierten Vielfalt von Gleichem.
Das freie Spiel Intuition
„Ich bin spirituell, aber nicht religiös.“ Das ist zum geflügelten Wort vieler geworden, die sich von jedweder Glaubensgemeinschaft distanzieren und höchstens etwas atmosphärisch Göttliches für möglich halten. Aus christlicher Perspektive mag das zu wenig sein. Aber es ist nicht nichts. Selbst ein Unmusikalischer, der nicht selbst musiziert, lässt sich von Musik berühren. Könnte es „religiös Unmusikalischen“ ähnlich ergehen? Wenn der Mensch von Natur aus schon nicht religiös ist, ist er von Natur aus aber auch nicht unreligiös. Woher sonst kommt trotz der Verzweiflung am Leben und am Tod die stille Sehnsucht nach einer ewigen Liebe, ewigen Treue, ewigen Gerechtigkeit, ja nach etwas ewig Ewigem? Solange das Ewige als unmögliche Möglichkeit das Menschsein nicht loslässt, ist das Religiöse keineswegs verloren. Jenseits des „Kirchentheaters“ wäre vorrangig der Christus-Impuls zu erhalten, um wie bei Paulus das Ahnen und Denken zu öffnen durch Bildung. Bei günstiger Gelegenheit setzt das womöglich Glauben wieder frei als spielerisches Tun: aus denkerischer Freiheit, aus Intuition, als reale Möglichkeit.