Am diesjährigen Karnevalsfreitag saß ich in unserer Küche und wollte gerade meinen Mittagspausen-Kaffee trinken, als mich ein beunruhigender Anruf erreichte: „Bitte kommen Sie umgehend Ihren Sohn abholen. Es gab einen Vorfall…“ Nachdem mir am Telefon die Details der mutmaßlichen Missetat unseres Nachwuchses geschildert worden waren, wusste ich im ersten Moment nicht, ob ich vor Schreck die Kaffeetasse fallen lassen oder sie vor Empörung an die Wand werfen sollte. Schnell meldete mein Mutterherz jedoch Zweifel an: Mein Sohn ist sicherlich manchmal mehr Bengel als Engel, aber eine solche Tat traue ich ihm eigentlich nicht zu. Als ich meinen Sohn schließlich auflas, fand ich nicht wie sonst einen vor pubertärer Obercoolness strotzenden Kerl, sondern ein Häufchen Elend vor. Aufgelöst schilderte er mir seine Version der Geschichte, wonach er von seinem vermeintlichen Freund ohne sein Wissen und Zutun in den Schlamassel hineingezogen worden war – und ich konnte nicht anders, als ihm umgehend zu glauben, ihn zu trösten und ihn aufzurichten. Wenig später hat sein Klassenkamerad seine Schuld eingestanden, meinen Sohn entlastet und sich bei ihm entschuldigt.
Wirkliche Demut ist kein Zeichen von Schwäche, sondern etwas, das die Seele „groß und stark“ macht.
Seit diesem Tag, an dem mein Sohn ohne sein Zutun in eine massive Bredouille geriet, das Donnerwetter seines Lebens erwartete und stattdessen Beistand und Trost erfuhr, ist eine erstaunliche und berührende innere Verwandlung bei ihm festzustellen: Während mein Mann und ich für ihn in letzter Zeit vor allem die nervigen und ihn in seiner Freiheit einengenden Eltern waren, gelten wir auf einmal wieder als willkommener Hafen und beliebte Gesprächspartner. Seine kleinen Geschwister sind plötzlich nicht mehr nervige Anhängsel, sondern beliebte Spielfreunde, und „fürchterliche Übel“ wie Hausaufgaben und Aufräumarbeiten werden neuerdings ohne Murren erledigt. Zugleich erscheint er durch diese Erfahrung an Reifung, Erdung und – auch wenn das auf den ersten Blick paradox anmuten mag – an Selbstvertrauen gewonnen zu haben. Und die einzig passende Umschreibung, die mir für diesen erstaunlichen Gesinnungswandel meines Sohnes einfällt, ist das Wort Demut.
Eigentlich stand ich diesem Begriff bislang aus leidvoller Lebenserfahrung eher kritisch gegenüber, gehöre ich doch zu den Menschen, die im kirchlichen Kontext erleben mussten, wie die Forderung nach Demut gegenüber Gott von seinen irdischen Stellvertretern zum Werkzeug der Erniedrigung missbraucht wurde. Aus einer Lektion in Demut wurde eine Lektion in Demütigung. Aber je intensiver ich mich mit diesem wiederentdeckten Wort befasste, desto mehr stellte ich fest, dass es sich bei der Demut – jenseits der unseligen Pervertierungen – um eine durchaus erstrebenswerte ethisch-moralische Tugend handelt.
So ist es auch kein Zufall, dass diese Eigenschaft in der Bibel häufige und durchweg positive Erwähnung findet: Im Alten Testament gilt ein demütiges Leben im Bewusstsein der Angewiesenheit auf Gott und die Mitmenschen als eine vorbildliche Grundhaltung eines jeden Gläubigen („Der Ehre geht Demut voran“; Spr 18,12), die von Gott reich entgolten wird („Der Lohn für Demut ist die Furcht des Herrn, Reichtum, Ehre und Leben“, Spr 22,4). Im Neuen Testament wird Jesus selbst zum Inbegriff von Demut („Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen“, Mk 10,45) – eine Grundhaltung, die an Ostern ihren Höhe- und Wendepunkt findet: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen“ (Phil 2,6–9). Demzufolge galt eine demütige und einmütige Haltung in den frühchristlichen Gemeinden auch als oberste Maxime („In Demut schätze einer den andern höher ein als sich selbst“, heißt es in Phil 2,3; „Seid demütig, friedfertig und geduldig, ertragt einander in Liebe“, in Eph 4,2).
Zugleich machen das Alte und das Neue Testament deutlich, dass die Versuche, andere Menschen zu demütigen, Gott zuwider sind und dass er ganz klar auf der Seite der Erniedrigten steht: „Als Heiliger wohne ich in der Höhe, aber ich bin auch bei dem Zerschlagenen und dem im Geist Niedrigen, um den Geist der Niedrigen wieder aufleben zu lassen und das Herz der Zerschlagenen neu zu beleben“ (Jes 57,15).
Dank der biblischen Lektion in Demut lernen wir also nicht nur, dass ein Leben in einer dienenden und bescheidenen Grundhaltung und das Wissen um die Angewiesenheit auf Gott und andere Menschen erstrebenswerte Tugenden sind, sondern auch, dass die Erfahrung einer schützenden und stärkenden Rückbindung an Gott und den Nächsten aufrichtet und durch die Turbulenzen des Lebens trägt. Wirkliche Demut ist somit kein Zeichen von Schwäche, sondern etwas, das die Seele „groß und stark“ macht. Eine Weisheit, die übrigens auch die Herkunft des deutschen Wortes Demut (althochdeutsch: diomuoti) widerspiegelt, das aus den Begriffen für dienen (dionōn) und Mut (muot) zusammengesetzt ist. Ja, eine wirklich demütige Haltung benötigt Mut, aber sie macht auch Mut – und wir wissen spätestens seit Schiller: „Dem Mutigen hilft Gott“.
Ich für meinen Teil bin dankbar, dass mein Sohn diese Misere weitestgehend unbeschadet überstanden und durch diesen Lernprozess eine innere Reifung erfahren hat und dass ich darüber hinaus – pünktlich und passend zur diesjährigen Fastenzeit – dieses (un)gute alte Wort und seine originäre Bedeutung wieder- und neu entdecken durfte. Gerade in diesen Tagen des Zugehens auf Ostern, dem Hochfest der tiefen Demut und darauffolgenden Erhöhung Jesu, ist es vielleicht für uns alle (und besonders auch für die Kirche und ihre obersten Verantwortlichen) gut und hilfreich, an diesen Wert erinnert zu werden, in die Selbstreflexion zu gehen und mit göttlichem Rückhalt den Mut zu mehr Bescheidenheit und dienender Nächstenliebe zu fassen.