Es gibt Kirchenlieder, die uns mit ihrem Text und Klang in fremde und vergangene Welten entführen – und gerade deshalb verzaubern können. Ein archaisches „Christ ist erstanden … Kyrieleis“ verankert jedes Osterfest neu im Glauben unserer Vorfahren und bringt die Kirche als Jahrhunderte übergreifende Zeugenschaft zum klingen. Und dann gibt es Lieder, die uns ganz in der Gegenwart treffen. Weil sie die Zerbrechlichkeit des Glauben-Wollens in dieser Zeit kennen. Weil sie den Schmerz des Nicht-Glauben-Könnens nicht verheimlichen und erst dadurch echte Glaubenslieder sind.
Zu den wertvollsten Vertretern dieses Gegenwartsrepertoires zählen die Dichtungen des niederländischen Theologen Hubertus Gerardus Josephus Henricus Oosterhuis, genannt Huub. Übertragungen seiner Lieder fanden seit den 60er‑Jahren auch in Deutschland begeisterten Anklang und trotz immer wieder aufkeimender Widerstände seitens der offiziellen Kirchenstellen Eingang in die Gesangbücher: Sechs Lieder aus seiner Feder wurden 2013 in den Stammteil des katholischen Gotteslob aufgenommen, darunter Herr, unser Herr, wie bist du zugegen (414), Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr (422) und So lang es Menschen gibt auf Erden (425). Im evangelischen Gesangbuch sind vier Lieder vertreten.
Oosterhuis wird 1933 in Amsterdam geboren und besucht das Gymnasium der Jesuiten. Nach dem Abitur wird er selbst Jesuit und 1964 zum Priester geweiht. Wegen seiner offenen Kritik am Pflichtzölibat gerät er jedoch schnell in Konflikt und wird aus dem Orden ausgeschlossen. Oosterhuis tritt daraufhin aus der Kirche aus, heiratet und versteht sich künftig als überkonfessioneller Theologe und Dichter. In der zuvor von ihm geleiteten Studentengemeinde, die sich ebenfalls von der katholischen Kirche löst, findet Oosterhuis den ökumenischen Nährboden für sein Schaffen.
Der Wille, den eigenen Weg vor Gott zu gehen, statt nur der Konvention zu entsprechen, ist tief in die Texte Oosterhuis eingesickert. Seine Lieder und Gebete zeichnen sich durch ihre lebensnahe Sprache und die starken, oft biblisch inspirierten Bilder aus. Mit seinem poetischen Feinsinn überführt Oosterhuis die biblischen Assoziationen aus ihrer religiösen Selbstverständlichkeit und verleiht ihnen neue Bedeutung. So wird der Gottesname, nach jüdischem Verständnis Garant göttlicher Gegenwart, zum Erfahrungsort seiner Abwesenheit: „Fremd wie dein Name sind mir deine Wege.“ Mit leeren Händen vor Gott zu stehen, ist für Oosterhuis kein Makel, sondern die aufrichtige Haltung eines Menschen unserer Zeit: „Von Zweifeln ist mein Leben übermannt,/mein Unvermögen hält mich ganz gefangen.“
In seinen Liedern erhält das Fragen Vorrang vor der theologischen Gewissheit – und damit der fragende Mensch Raum vor dem fraglichen Gott. Wer sich dieser Wirkung aussetzen möchte, dem sei insbesondere Oosterhuis’ kaum bekannte Litanei von der Gegenwart Gottes in der wundervollen Übertragung von Lothar Zenetti (GL 557) empfohlen. Getragen von der sich langsam emporwindenden Melodie rechnet und rechtet dieser Text mit dem Ewigen: „Komm, sei uns nahe, damit wir leben./Oder bist du, o Gott, kein Gott der Menschen?“
Am Ostersonntag starb Osterhuis im Kreis seiner Familie in Amsterdam. Möge ihn Gott nun empfangen in dem „Land, das keine Grenzen kennt“.