Ein Hof und elf GeschwisterAbschied

Gemeinsam mit seinen zehn Geschwistern erzählt der Historiker Ewald Frie vom Verschwinden der bäuerlichen Gesellschaft.

Bauer zu sein, war bis in die 1960er-Jahre ein öffentlicher Beruf. Jeder konnte sehen, wie geackert, gesät, geerntet wurde“, so der Historiker und Theologe Ewald Frie. Doch im voranschreitenden Wirtschaftswunder galten Bauernfamilien und ihre Betriebe bald als arm, nach Stall riechend oder gänzlich aus der Zeit gefallen. Allmählich wurde der „stille Abschied vom bäuerlichen Leben“ eingeläutet.

Der Tübinger Professor für Neuere Geschichte und Autor (Die Geschichte der Welt) hat diese Umbrüche in Arbeit, bäuerlicher Gesellschaft, Familie, Katholizismus, Alltagsreligiosität und Schule miterlebt. Als drittjüngster von elf Kindern ist Frie in einer katholischen Bauernfamilie im Münsterland aufgewachsen. Changierend zwischen Familienerinnerungen und wissenschaftlichem Anspruch beschreibt er in seinem jüngsten Buch das Leben auf dem elterlichen Hof, rekonstruiert aus Fotografien, Schriftzeugnissen und Erlebnissen von sich und seinen Geschwistern. Zwischen 1944 und 1969 geboren, haben sie schließlich fast alle die „ländliche Welt“ verlassen, „ausgestattet mit der neuen Währung, die nicht mehr Vieh und Land, sondern Bildung hieß“.

Nun erinnern sie sich. An die Mutter, die zwischen ihrem 22. und 47. Lebensjahr nahezu alle zwei Jahre schwanger war und sieben Söhnen und fünf Töchtern – eine starb kurz nach der Geburt – das Leben schenkte. An den Vater, der Ferkel mit dem Taschenmesser kastrierte. An einen Lehrer, der einen ihrer Brüder gängelte, ja regelrecht mobbte, indem er ihn wiederholt zwang, die Namen der Kühe vor der Klasse aufzusagen. Hofarbeit und Hausaufgaben bestimmten oft die Freizeit.

Vor allem die später geborenen Kinder profitierten von den geselligen und bildungsfördernden Angeboten, die Kirchengemeinde und katholische Landjugend boten: Redewettbewerbe, Messdienerstunden – jedoch lange nur den Jungen vorbehalten –, Zeltlager oder Disco im neugebauten Jugendheim. Auch für Erwachsene gab es im kirchlichen Umfeld Raum zur Selbstverwirklichung. So engagierte sich die tiefreligiöse und bildungshungrige Mutter von Ewald Frie etwa bei Kindergottesdiensten oder im Leitungsteam der Katholischen Landfrauen. Kümmerte sie sich bisher um Haus, Hof und Kinder, als Multitasking noch ein Wort der Zukunft war, kaperte sie nun den Schreibtisch. Der war „bis in die 1960er-Jahre der Ort des Milchkontrolleurs und der Melk- und Stallbücher.“

Es sind mannigfaltige Erinnerungen wie diese, aus denen Ewald Frie einen lebendig erzählten und ausgefeilten Zeitzeugenbericht geschaffen hat: seriös, subjektiv und ein wenig sentimental.


EWALD FRIE:
EIN HOF UND ELF GESCHWISTER
Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben
C. H. Beck Verlag, München 2023, 191 Seiten, 23 €

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