CHRIST IN DER GEGENWART: Herr Fuchs, bei unserer Jubiläumsveranstaltung in Freiburg haben Sie gesagt, Mystik sei das Nachdenken über die Nicht-Selbstverständlichkeit des Lebens. Das klingt sehr theoretisch, wie passt das zum Alltag?
Gotthard Fuchs: Nicht nur Nachdenken, sondern Innewerden. Und das geschieht doch sehr praktisch und konkret: in beglückenden Ereignissen und Begegnungen, aber auch in Auseinandersetzung mit dem, was schwer ist – seien es persönliche Schicksalsschläge oder bedrückende Themen wie der Ukraine-Krieg oder die Missbrauchstragödien in den Kirchen.
Also nichts, was uns aus dem Alltag herausreißt und in fromme Stimmung versetzt, sondern die bewusste Wahrnehmung des Alltäglichen.
Genau. Mit dem Geheimnis, das wir Gott nennen, ist ja nicht eine spektakuläre Zutat gemeint, über die man herumspekulieren kann, ob es die nun gibt oder nicht. Nicht irgendeine Sonderwelt, die dann sekundär zum normalen Leben dazukommt. Oft werden Spiritualität und Mystik mit besonderen Erfahrungen oder Gipfelerlebnissen in Verbindung gebracht, gewiss toll. Aber viel grundlegender ist es, im Alltag geistesgegenwärtig zu werden, in der Wahrnehmung des unscheinbar Guten und in der Empörung gegenüber dem Unrecht. Bei dieser Gottdurchlässigkeit aller Dinge habe ich natürlich den Theopoeten aus Nazareth vor Augen. Wie konnte er doch Alltägliches durchsichtig machen: Da wird die ganze Welt zum Gleichnis Gottes, zum Sakrament seiner Gegenwart – und das gerade auch dort, wo er noch ganz verborgen ist und zu fehlen scheint.
Wir haben nachgeschaut – Ihre erste Kolumne in der Reihe „Wege und Welten“ erschien im Januar 2012. Das macht bis heute weit über 500 Beiträge. Woher stammt Ihre wöchentliche Inspiration?
Das sind oft Stichworte, die mich anspringen – bei der Lektüre, in den Nachrichten, in den täglichen Aufgaben und Begegnungen, und oft auch in der Natur und beim Wandern. Manche davon reichern sich dann über Wochen und sogar Monate an, manche werden sofort zum Fließtext. Immer geht es mir um kleine Zündungen und Verfremdungen, immer suche ich die biblische Resonanz und den aktuellen Bezug. Es ist voller Überraschungen und nicht ohne Finderglück.
In Ihren Texten spielen oft große Denkerinnen und Denker der Tradition wie Teresa von Ávila oder Meister Eckhart eine Rolle. Was können wir von diesen fernen Zeugen lernen?
Das ist ja das Großartige an Kirche: Solche Glaubenslehrerinnen und -lehrer sind eben nicht fern. Ihr geistliches Lebenswissen verbindet sich mit unseren Fragen von heute, und nicht selten sind sie viel weiter als unsereiner. Gerade wir im christlichen Kontext sitzen auf so vielen mystagogischen Schätzen, die wir selbst nicht kennen und anderen schuldig bleiben! Und wir kriegen zu wenig von den anderen mit, von denen damals und von denen heute.
Sie schauen auf ein vielfältiges Berufsleben zurück, waren in der Wissenschaft, als Priester und Radio- autor tätig. Was ist das Besondere daran, über Mystik zu schreiben?
Der Respekt und die Diskretion nehmen eigentlich wöchentlich zu. Es geht ja um das Intimissimum des Menschseins und des Christwerdens. Dieses Nicht-Selbstverständliche des Daseins in Worte zu um-schreiben, erlebe ich als sehr anspruchsvoll. Das Kleinformat der wöchentlichen Kolumne zwingt zudem zur Verdichtung. Alltagsnah soll es sein und gut verständlich, informativ und inspirierend – ein Spagat! Wichtig sind mir immer der politische Bezug und die soziale Dimension. Nur ja keine faule Innerlichkeit, nein, Schwarzbrot fürs Leben. Die ständige Übersetzung von Kirchen- und Alltagssprache (und umgekehrt) ist herausfordernd: nur ja kein Jargon! Und: Es kommt schließlich doch auf die Lebenspraxis an, gerade bei diesem Themenfeld. Deshalb empfinde ich das Schreiben und auch das Reden darüber als ausgesprochen gefährlich. Es sind da zu viele ungedeckte Schecks im Umlauf, in unserer Kirche und auch auf dem Sinnmarkt überhaupt!
Was hat Ihre Vorstellung von Mystik und Spiritualität im Laufe Ihres Lebens geprägt?
Immer mehr die Lebenstapferkeit der sogenannten kleinen Leute, ihre Glaubenskraft und Alltagsweisheit. Und der Dank an jene, die im Denken und Beten nicht nachlassen. Dass man mystische Frömmigkeit und kritische Theologie gegeneinander ausspielt, ist schlimm; beides fehlt leider oft auch im kirchlichen Pastoralbetrieb. Wir sollten eben Mystik nicht als Sonderphänomen für religiös Hochmusikalische missverstehen, sondern als Tiefendimension, als Geheimnis der Wirklichkeit im Ganzen und Einzelnen.
Was empfehlen Sie unseren Leserinnen und Lesern, um die Mystik im eigenen Leben zu entdecken?
Ich möchte ihnen zunächst herzlich danken für Vertrauen und Geduld die ganzen Jahre über. Und ich empfehle ihnen, sich im Staunen über die eigene Existenz und das Dasein der Welt einzuüben. Das Staunen über die Gaben und Möglichkeiten, die sich auftun, und eine besondere Achtsamkeit für die Tiefen und Widerständigkeiten, die uns lehren, endlich zu werden – endlich Mensch zu werden, im doppelten Sinn.
GOTTHARD FUCHS, Dr. phil, wurde am 8. Mai 1938 in Halle geboren. Er war langjähriger Direktor der Rabanus Maurus-Akademie der Diözesen Limburg, Mainz und Fulda und ehrenamtlicher Burgpfarrer auf Burg Rothenfels. Zu seinem 85. Geburtstag widmet ihm auch „Camino“ eine Sendung, zu hören am Sonntag um 11:30 Uhr auf hr2 oder vorab auf Youtube:
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