Im Jahr 1995 wurde ich Joseph Ratzingers Lektor bei Herder. Wir hatten bei mehreren Büchern zusammengearbeitet, als er 2005 Papst wurde. Nach seiner Wahl las ich für eine Anthologie alles, was von ihm im Archiv stand. Dabei fiel mir auf, wie konsequent er buchstäblich alles von Jesus her dachte – und dass die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus eines der großen Themen seines Lebens war. Die Nazis hatte er als Jugendlicher selbst erlebt. Beides war wohl der Grund dafür, dass „Mehrheit“ für ihn nicht viel wog, weil Mehrheiten kommen und gehen und weil sie immer auch irren können. Sein Pochen auf „Wahrheit“ fand ich manchmal schwierig, denn wer kennt die schon, aber vor diesem Hintergrund zugleich nicht ganz und gar unverständlich. Irgendwo in dem Lesemarathon stieß ich auf den Satz „Wer den Menschen weniger gibt als Gott, gibt ihnen zu wenig.“
Vielleicht zehn Mal habe ich Benedikt XVI. in Rom getroffen. Beim ersten Treffen sagte er mir: „Ich habe da so ein Jesusbuch.“ Er hatte nicht das geringste Problem damit, dass ein Manuskript auch dann ein Manuskript ist und bearbeitet wird, wenn es vom Papst kommt. Er war immer einer der unkompliziertesten Autoren gewesen, ein guter Schreiber und so gut wie mit allen Vorschlägen einverstanden, und das blieb auch nach seiner Wahl zum Papst so. Die Arbeit lief über seine vormalige Haushälterin Ingrid Stampa. Mit ihr besprach ich offene Fragen; jeden Dienstag war sie beim Papst und klärte sie mit ihm. Er freute und bedankte sich, wenn ein Buch schön geworden war. Verärgert war er, als er erfuhr, dass ich einmal einen Professor gebeten hatte, einen Text von ihm gegenzulesen: „Ich bin doch selbst Professor!“ Ja, natürlich war er das. Bei der Regensburger Rede oder wenn er sich bei einem theologischen Streit auf eine Seite schlug, kam es mir vor, als habe der Professor manchmal den Papst in die zweite Reihe gestellt.
Dabei ist sein theologisches Hauptwerk, das dreibändige Jesusbuch, dessen Entstehung ich über Jahre begleiten konnte, eigentlich ein sehr pastorales Buch: Auch wenn die Evangelien Jesus unterschiedlich und zum Teil scheinbar widersprüchlich darstellen, sind sie doch einig darin, dass er Gottes Sohn ist. Darauf sind nicht frühe Gemeinden Jahrzehnte nach Jesu Tod gekommen; vielmehr haben sich die Gemeinden überhaupt erst gebildet, weil sich dieser Glaube am historischen Jesus selbst entzündet hatte. Das wollte Benedikt XVI. zeigen. Es ging ihm darum, dass die Evangelien im Kern verlässlich sind und der Glaube nicht ins Leere greift. Diese Gewissheit vermisste er in weiten Teilen der Theologie und sie wollte er den Menschen zurufen. Theologie, die Rede von Gott, war seine Form der Nächstenliebe. Eben: „Wer den Menschen weniger gibt als Gott…“
Ich denke an ein Treffen, bei dem meine Familie dabei war, wo er mit meiner Frau lachte und sich zu unseren Töchtern hinabbeugte und mit ihnen scherzte. Ein andermal waren wir kurz zu zweit allein in einem Raum und er stand vor mir als der einsamste Mensch der Welt. Die letzte Begegnung war in seinem Alterssitz in den Vatikanischen Gärten. Ich hatte ein paar neue theologische Bücher für ihn dabei. Er sah sie einzeln an, nickte anerkennend und sagte, er werde sie nicht lesen. Er habe in seinem Leben genug gearbeitet. Ein Kollege hatte ihm einen selbstgebackenen Stollen mitgebracht; über den hat er sich sehr gefreut.
Petrus wurde Erster der Apostel, weil er Jesus als Messias bekannt hat. Das also ist die Aufgabe des Papstes: Jesus zu bekennen. Das hat Benedikt XVI. gemacht, mit Fehlern gewiss, aber so gut er es konnte. Er wollte den Menschen nicht zu wenig geben. R.I.P.