Nach über einem Jahr ist der Krieg in der Ukraine längst von den Titelseiten und aus den TV-Brennpunkten verschwunden. Alle Argumente wurden schon ausgetauscht, scheint es. Jeder hat seine Meinung gesagt. Die Wirtschaftssanktionen sind lange beschlossen, die Waffenlieferungen auch. Putins Krieg wird mehr und mehr zum Hintergrundrauschen – so wie all die anderen Kriege, die überall auf der Welt geführt werden. Umso wichtiger, dass gerade jetzt Bücher erscheinen, die drängend daran erinnern, dass es uns alle elementar angeht, was in der Ukraine geschieht. Und dass jeder seinen Beitrag zum Frieden leisten kann.
Dem Theologen Renke Brahms, langjähriger Friedensbeauftragter der evangelischen Kirche, gelingt es in Allein der Frieden, auf unter 200 Seiten die Geschichte der protestantischen Friedensethik nachzuzeichnen, bevor er die Lehren aus 500 Jahren auf den konkreten Fall Ukraine bezieht und bis zum Einsatz nuklearer oder chemischer Waffen durchspielt. Noch einmal werden die großen Fragen unter die Lupe genommen: Kann es überhaupt so etwas wie einen gerechten Krieg geben? Hat konsequenter Pazifismus noch eine Berechtigung, wenn ein Land überfallen wird? Sollen wir Panzer liefern? Müssen wir es sogar? Brahms findet zu klaren, einleuchtenden Antworten und legt dabei schonungslos auch eigene Fehler offen. „Wir müssen einsehen und bekennen, dass wir nicht genug auf Schwestern und Brüder gehört haben, die uns auf die Gefahr eines Krieges hingewiesen und vor Russland unter Putins Herrschaft gewarnt haben“, heißt es an einer Stelle. Zu viele hätten sich vom „Tanz um das goldene Kalb der wirtschaftlichen Vorteile“ blenden lassen und nicht darauf geachtet, was in Tschetschenien, auf der Krim oder in Georgien passiert, solange billiges Gas aus Russland geliefert wurde.
Gleichzeitig ist Brahms weit davon entfernt, diejenigen zu verurteilen, die sich für Gespräche mit Russland und eine friedliche Lösung eingesetzt haben. Einen ganzen Abschnitt widmet er dem „Narrativ der Naivität“, das benutzt wurde, um überzeugte Pazifisten lächerlich zu machen. „Naivität nur denen vorzuwerfen, die mit Ernst und Engagement einen gewaltlosen Weg suchen, wird der Sache keineswegs gerecht.“ Waffen und militärische Gewalt bringen keinen Frieden – auch wenn sie während einer laufenden Invasion nötig sein können, um „einen Raum für den Frieden zu schaffen“. Tatsächlich muss, gerade wegen der apokalyptischen Gefahr eines tatsächlichen offenen Krieges zwischen Ost und West, immer Friedensarbeit geleistet werden. Die über Jahrzehnte aufgebauten diplomatischen Deeskalationsmechanismen müssen gewahrt bleiben – auch wenn die Gegenseite sie mit Füßen tritt. „Das internationale Recht aufzugeben, ist keine Alternative“, betont Brahms eindringlich. „Vielmehr muss alle Anstrengung darauf gerichtet sein, das Recht aufzurichten.“
Um neben Brahms’ klarer, aber ein Stück weit distanzierter Perspektive nicht das persönliche Schicksal der Menschen aus dem Blick zu verlieren, die sich zwischen den Mühlrädern von Weltmächten wiederfinden, empfiehlt sich Frieden stiften, Frieden sein als Begleitlektüre. „Als Kind in Kabul kannte ich keinen Frieden, jedenfalls nicht als Zustand, sondern nur als flüchtigen Augenblick“, beschreibt der afghanisch-deutsche Religionsphilosoph Ahmad Milad Karimi seine frühesten Erinnerungen. Der allgegenwärtige Krieg zeigte sich jeden Tag neu, brach mit schrecklicher Regelmäßigkeit in den Alltag ein. „Frieden hingegen war immer nur die Zeit dazwischen: die Zeit zwischen all den unheimlichen Klängen, die der Krieg erzeugt, wenn der Lärm der Raketen, der Explosionen der Bomben oder der schreienden Kinder einmal nicht zu hören war.“ Zusammen mit Anselm Grün macht sich Karimi in dem Buch auf die Suche nach einem echten, dauerhaften Frieden, der – da sind sich beide sicher – jenseits der politischen auch eine innere Dimension hat.
Aus seiner Erfahrung als spiritueller Berater ist Grün besonders an dieser inneren Ruhe interessiert. Er nähert sich dem Thema über das griechische Wort für Frieden, eirene, das auch mit Harmonielehre in der Musik zu tun hat. „In Frieden mit mir selbst bin ich, wenn ich die verschiedenen Töne in mir zusammenklingen lasse“, schreibt er. „Es geht darum, jedem Ton in mir zuzugestehen, dass er seine Berechtigung hat.“ Das Buch unterteilt sich in kurze, gut lesbare Kapitel zu Unterpunkten wie „Frieden mit mir selbst“, „Frieden mit dem anderen“, „Frieden mit der Natur“ – und „Frieden mit Gott“. Der Mönch und der Islamwissenschaftler nutzen diese Gelegenheit auch, um mit religiösen Vorurteilen aufzuräumen. Karimi erklärt, warum der vielzitierte Jihad, wie er ihn versteht, nichts mit einem Krieg gegen Andersgläubige zu tun hat, während Grün die Tradition des „Militärdienstes für Christus“ (milites Christi) ins Auge nimmt. „Es geht dabei nicht um den einen Kampf gegen jemanden, gegen Menschen“, fasst er zusammen. „Miles Christi, das ist einer, der mit den eigenen Leidenschaften, mit Tendenzen kämpft, die den Menschen hindern, wirklich in Frieden zu leben.“
Das Buch, das als Dialog zwischen dem christlichen und dem muslimischen Gelehrten angelegt ist, endet stimmungsvoll in einem tatsächlichen Gespräch, in dem die beiden über den Frieden im Großen wie im Kleinen, im Inneren wie im Äußeren reflektieren. Hier wird noch einmal deutlich gemacht, wie schnell Krieg zum Selbstläufer werden kann, wie oft man sich in scheinbar unlösbaren Dilemmata wiederfindet. „Frieden heißt harte Arbeit, die auch frustrieren kann und einem manchmal das Gefühl gibt, das hat alles keinen Sinn“, schreibt Karimi gegen Ende des Buches. Auch er, der zwischen Bomben und Tod aufgewachsen ist, würde an dieser Friedensmission verzweifeln, wenn er nicht die religiöse Hoffnung hätte, dass Gott einen guten Plan für seine Welt hat.
Allein der Frieden schließt mit zwei Predigten, die Renke Brahms im Frühjahr 2022 gehalten hat, mitten in die Schockstarre des Angriffskriegs hinein. In bester Karl Barth-Manier bringt er Bibel und Tageszeitung zusammen, holt die jahrtausendealten Texte in unsere Gegenwart. Und interessanterweise findet auch Brahms am Ende seines Buches den Weg von der weltpolitischen Bühne in den Alltag der Leserinnen und Leser. „Die großen Worte von Frieden und Versöhnung werden zur konkreten Erfahrung, wenn wir uns auf den Weg Jesu einlassen“, schreibt er. „Wir lernen auf dem Weg, was Frieden und Versöhnung für uns bedeuten. In unseren Lebenszusammenhängen in den Familien und Nachbarschaften, in unserer Gesellschaft, im Privaten genauso wie im Politischen.“ Damit bleibt das Buch lesenswert – auch wenn dieser eine Krieg eines Tages ausgestanden sein wird.