Warum wird die Kirche heute noch gebraucht? Ist es nicht möglich, allein, ohne Institution, an Gott zu glauben und sich entsprechend in Politik und Gesellschaft zu engagieren?
Gesine Schwan: Wenn ich so durch die Lande komme und Vorträge halte, fällt mir auf, dass ich sehr oft gesagt bekomme: „Sie haben mich ermutigt.“ Und dann frage ich mich immer, woher rührt diese Beobachtung und was meinen die Zuhörerinnen und Zuhörer eigentlich damit? Denn es ist ja nicht so, dass ich nicht die vielen Ausweglosigkeiten sehe, die es gibt. Und ich bringe sie auch zur Sprache. Aber ich gebe zu, ich habe dabei eine positive Grundhaltung. Wir müssen den Problemen ins Auge sehen. Und das können wir auch, weil wir schon Wege finden werden und weil der Glaube es uns möglich macht, ins Offene zu gehen, also nicht nur dann etwas zu beginnen, wenn wir den Fahrplan von Anfang bis Ende schon kennen.
Diese Ermutigung kommt durch eine Haltung, die darauf vertraut, dass sich uns, wenn wir dafür etwas tun, auch Wege und Lösungen für unsere Probleme zeigen werden. Dieser Mut lohnt sich und macht Sinn. Ich bin kein Sisyphus. Ich habe auch nie geglaubt, dass Sisyphus ein glücklicher Mensch ist, wenn der Stein, den er mühsam den Berg hinaufrollt, immer wieder abwärtsrollt. Und die Ermutigung finden die Menschen in einer Haltung, die bei mir aus dem Glauben kommt. Ich habe den Menschen keine fertigen Rezepte zu bieten. Doch mögliche Lösungsansätze kann ich ihnen vorschlagen und zeigen: „Wir könnten Folgendes machen…“ Aber ich werde ihnen eben nicht sagen: „Es hat sowieso alles keinen Sinn. Wir werden sowieso verlieren, und es wird sowieso alles nichts.“ Und wenn ich in Situationen, die ausweglos scheinen, trotzdem nicht aufgebe, dann liegt das an meinem Glauben, der ohne Kirche nicht vermittelt werden, sondern versanden würde.
Aber könnten Sie sich dabei nicht einfach etwas vormachen?
Natürlich kann man fragen, ob das eine Autosuggestion ist, die ich mit mir anstelle, damit ich nicht aufgebe. Das ist eine alte Frage der Religionskritik: Dient Religion nicht als Instrument der Beruhigung? Wenn die Religion das alles bewirkt, habe ich nichts dagegen. Es ist aber nicht so, dass, wenn sie es bewirkt, dies nun ein Beweis dafür ist, dass die Instrumentalisierung am Anfang steht und nicht der Glaube. Wenn es nicht auch positive Wirkungen des Glaubens gäbe, hätte uns der liebe Gott ein bisschen ausgetrickst. Was ich mal nicht annehme. Denn ich erfahre immer wieder Zeichen, dass mein Glaube unerwartet positive Auswirkungen hat, bei mir und für andere. Und die kommen letztlich nicht aus mir selbst. Deshalb ist die Kirche notwendig, um das Evangelium weiterzugeben.
Könnte es sein, dass die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die wir in der Gesellschaft sehen können, auch mit dem Verlust des Glaubens und dem damit verbundenen Verlust von religiöser Hoffnung zu tun hat?
Ja, das hat ganz sicher damit zu tun.
Wir haben auch keine säkularen Hoffnungsbilder mehr.
Nein. Wie kann man Hoffnung wiedergewinnen? Im persönlichen Bereich, denke ich, ist es am ehesten ein liebevoller Umgang, der Menschen stärkt, also Zuwendung zu anderen Menschen. Ihnen etwas Gutes tun.
War das früher anders?
Ich weiß nicht, ob in früheren Zeiten, als die Kirchen voller waren und der Religionsunterricht besucht wurde und alles äußerlich ordentlich aussah, die Menschen wirklich gläubiger waren. Im Nationalsozialismus waren einige schon sehr gläubig und haben aufgrund ihres Glaubens Juden versteckt. Aber man kann natürlich auch auf die Idee kommen, dass da, wo es große Mehrheiten gibt, die alle dasselbe tun, auch einfach die Konventionen eine große Rolle spielen. Man geht am Sonntag zur Kirche und man hat hinterher noch Spaß in der Kneipe – wogegen ich nichts habe. Aber aus innerer Motivation zur Messe zu gehen, ist sicher für die Mehrheit der Menschen nicht so einfach. Bräuche zu sichern, die den Glauben stützen und unterstützen, ohne dass er zu einer oberflächlichen Konvention wird, ist wahrscheinlich nicht einfach, aber notwendig.
Welche Rolle spielt für Sie der interreligiöse oder interkulturelle Dialog?
Vor der Freiheit und der Freimütigkeit, mich mit anderen auch interkulturell oder interreligiös auszutauschen, habe ich keine Scheu, weil ich überzeugt bin, dass auch mein Glaube an Gott nicht in Paragrafen gefasst werden könnte und weil das, was zumindest die monotheistischen Religionen gemeinsam haben, sehr viel ist.
Mit den asiatischen Religionen habe ich mich nie viel befasst, weder mit dem Buddhismus noch mit dem Hinduismus. Ein wenig ist mein Eindruck, dass da einerseits das konkrete personale Individuum gar nicht so eine Rolle spielt und dass andererseits auch die Gemeinde, die Gemeinschaft der Menschen, weniger Bedeutung hat. Das ist, ehrlich gesagt, nicht so mein Ding. Mir ist der Blick auf die Person und ihr ewiges Leben schon sehr wichtig.
Ich habe keine konkrete Vorstellung über das Leben nach dem Tod. Es ist auch nicht die Bedingung meines Glaubens, dass ich mir das vorstellen können müsste. Ich schließe nichts aus. Lange habe ich gedacht: Es kann sein, dass es eine Form des Weiterlebens nach dem Tod gibt, die eine andere Form von Glück bereithält, als wir sie hier erleben. Diese Möglichkeit hat mir genügt. Allerdings ist mir diese Frage vor einiger Zeit nach dem schnellen Tod meines Bruders, mit dem ich eng verbunden war, viel wichtiger geworden. Der Wunsch, meinen Bruder wiederzusehen – in welcher Dimension auch immer –, ist sehr virulent geworden. Wir haben in der Schule zusammen „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms gesungen, da heißt es im V. Satz nach Joh 16,22: „Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ Das habe ich ihm in der Sterbestunde ins Ohr gesagt. Deshalb bete ich jetzt das Glaubensbekenntnis nochmal mit anderen Gedanken.
Der Text ist ein Auszug aus dem Band: Gesine Schwan, „Warum ich die Hoffnung nicht aufgebe. Ein Gespräch mit Holger Zaborowski“, Patmos Verlag, Ostfildern 2023, 160 Seiten, 22 €.