Wer am Holz hängt, ist ein von Gott Verfluchter. Historisch verging bloß kurze Zeit, bis der Tod Jesu am Kreuz, die schändlichste Hinrichtungsart für Sklaven, Terroristen und übelste Verbrecher, von den frühen Jüngern Christi verstanden wurde als Tor zur Rettung und Erlösung aus der Sündenverfallenheit des Menschen, ja des ganzen Menschengeschlechts. Die Realerfahrung der Auferstehung Christi markierte einen geistesgeschichtlichen Bruch epochalen Ausmaßes. Vor Christus – nach Christus: Der Wendepunkt setzte neue Plausibilität frei: Erlösung, Rettung, ewiges Leben ist möglich. Erst kleine Kreise, doch allmählich überzeugte das auch nachdenkliche „Fernstehende“. Das Zeichen des Kreuzes wurde als Siegeszeichen für die Überwindung der Nacht des Todes begriffen. Der Gehenkte sei von Gott selbst besiegelt als sein geliebter Sohn zum Heil derer, die an ihn glauben. Daher wurde das Kreuz in den ersten Jahrhunderten geschmückt mit Edelsteinen.
Das löschte das schmähliche Geschehen nicht aus. Im Gegenteil: Zeige deine Wunde, den Schmerz, die Erniedrigung, die Entäußerung! Paulus dokumentierte, wie der Tod Jesu am Kreuz nachösterlich den einen als Ärgernis und den anderen als Torheit anstößig blieb und bleibt. „Alexamenos betet seinen Gott an.“ – Die Spottkritzelei vom Palatin, die ungefähr um das Jahr 200 entstand und einen an ein Kreuz gehefteten Körper mit Eselskopf zeigt, ist zum „Urbild“ geworden für die Spott- und Hetz-Karikaturen gegen Christentum und Kirche über die Jahrhunderte, mit neuem Auftrieb in unseren Tagen. Im Zuge der Säkularisierung und des raumgreifenden „Gottesverlustes“ hat sich der Trend verstärkt, das Kreuzzeichen aus dem öffentlichen Raum und somit aus dem gesellschaftlichen Leben zu entsorgen. „Gerechtfertigt“ wird das jetzt mit der zunehmenden Verschiedenheit der Weltanschauungen, der Diffusion der religiösen wie nichtreligiösen Verhältnisse im Staatswesen des einstmals christlich grundierten Abendlands. Doch den geistesfreien Raum gibt es nirgendwo. Wo das Religiöse schwindet, besetzt etwas anderes seinen Platz. An Ersatzreligionen, die sich des kollektiven Bewusstseins bemächtigen, herrscht kein Mangel. Am Himmel wacht nicht mehr Gott schützend über die Menschen, sondern das zu schützende Klima.
Seltsamerweise scheinen momentan sowohl weltliche als auch spirituelle Empfindungen das Unbehagen am Kreuz zu mehren: Mit ihm tritt ein scheußliches Marter- und Foltersymbol vor unsere Augen, das aufklärerisch, daher jedoch ungemütlich das menschliche Bewusstsein an die nie endende Sünden- und Schuldgeschichte kritisch erinnert. Das widerstrebt dem Lustprinzip einer nach Spaß heischenden Wohlstandskultur voller Wellness-Glückseligkeit. Sogar die Theologie und der Kirchenbetrieb werden davon ergriffen, die dunklen Seiten von Sünde, Opfer, Buße, Gericht und Verdammnis möglichst zu verdrängen und stattdessen den einzig allerbarmenden Gott der Liebe in Szene zu setzen. Gott liebt jeden, egal wie er ist – so die bevorzugte Lehre, welche die Härte des Christlichen um eines „niederschwelligen Angebots“ willen vermeiden möchte und so über die andere Seite der Wahrheit großzügig hinweggeht: Gott liebt jeden, obwohl er ist, wie er ist. Welchen Platz hat da das Kreuzesgeschehen noch im Leben und Erleben von Sein und Zeit, das Erschrecken angesichts all der Übel, die sich individuell im eigenen Menschenherzen ansammeln wie gesellschaftlich strukturell als soziale Sünde auftürmen? Liebt Gott auch Putin, einen der obersten Kriegsverbrecher und Menschenverächter unserer Zeit, und seinen unterwürfigen Patriarchen? Oder gibt es ein endzeitliches Gericht, gar eine Hölle ewiger, wahrhaft schmerzhaft empfundener Trennung von Gott doch?
Eine befriedigende Antwort darauf kennt die Theologie nicht, die sich seit jeher verstrickt hat in verschiedenste Deutungen des Heilsgeschehens in Jesus Christus und dabei Streit wie Ausgrenzung nie scheute. Es ist eine Crux mit dem Kreuz. Und mit Erlösung und Auferstehung erst recht. Vor allem mit den Gottes- und Christusverständnissen, die sich darum herum oft verwirrend ranken. Besser Abstand nehmen in vornehmer Gelassenheit oder weil der Mensch über Offenbarung doch nichts wirklich Verbindliches sagen kann? Nein, die Anstößigkeit und Abstößigkeit des Kreuzes bleibt ein Stachel.
Das ruft der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück in 24 Essays des aktuellen Bandes fruchtbringend in Erinnerung. Entstanden sind anspruchsvolle religiöse Meditationen, die in großen Linien von der Antike über das Mittelalter bis zur Gegenwart theologiegeschichtliche, liturgische wie literarische und kunsthistorische Facetten in großer Belesenheit miteinander verbinden und deuten. Dabei wird in einer Art „zweiten Offenbarung“ sichtbar, wie unterschiedlich, aber auch gegensätzlich, widersprüchlich, ja paradox sich im Passionsgeschehen das Mysterium Gottes und Christi spiegelt und je nach Zeit und Raum die Glaubensweisen prägt.
Zum Beispiel versuchten die frühen Kirchenväter zwecks Inkulturation des Christusgeschehens in die heidnische Geisteswelt Entsprechungen bei antiken Mythen zu finden, ob bei Orpheus, der in die Unterwelt hinabsteigt, um seine geliebte Frau aus dem Reich des Todes zu befreien, oder bei Odysseus, der, am Mastbaum gefesselt, den Sirenengesängen widersteht, so wie die Christen mit Christus, geheftet an das Kreuz, den Verlockungen und Versuchungen der Welt nicht erliegen (sollen). Tück geht ein auf das Opfer und stellvertretende Selbstopfer in griechischen Tragödien ebenso wie auf die verstörende Aufforderung Gottes an Abraham, seinen Sohn Isaak preiszugeben. Oder wie ist das Leiden des Gottesknechts, des unschuldigen Gerechten, im Buch Jesaja zu verstehen?
Eine eigene große Problemzone wird eröffnet durch die frühen christlichen Entwürfe und philosophischen Spekulationen, was das Zusammenspiel von menschlicher und göttlicher Natur in Christus für seine Willensfreiheit und gleichzeitige Ergebenheit in den Willen des Vaters bedeutet. Das betrifft das Ringen im Garten Getsemani ebenso wie die seltsame, bis heute widerborstige Satisfaktionstheorie eines Anselm von Canterbury, als ob Gott quasi ein höchstes göttliches Eigenopfer gebraucht hätte, um seine eigene Ehre wiederherzustellen. Oder soll mit dem Tod Jesu womöglich gar das göttliche Schöpfungsversagen „ausgebügelt“ werden, das laut dem Anfang der Bibel zwar ein gutes, ja sehr gutes Ergebnis, faktisch aber ein imperfektes, sündig infiziertes und von ständigen Katastrophen heimgesuchtes evolutives Universum des Unbelebten wie Belebten hervorbrachte? Darf, durfte der Menschensohn Jesus – weil Gottessohn – nicht rebellieren? Oder tat er es vielleicht doch? War er stets gehorsam, quasi göttlich überformt und daher gar nicht frei? Die Theologie wackelt gerade da heftig, wo sie zu harmonisieren, zu glätten, also letztlich doch alles in fromme „selbstbestimmte“ Ergebenheit in Gottes ewigen Ratschluss aufzulösen versucht.
Während ein Thomas von Aquin die Kreuzestheologie auf das ganze irdische Leben Jesu hin weitet und die Freiheit des Menschen mit der Freiheit Gottes zusammenzubringen versucht, überformt die radikale Gnadentheologie Martin Luthers die menschliche Berufung zum Heil derart, dass die Eigennatur und Eigenanstrengung des immerwährenden Sünders und immerwährend von Gott Gerechtgesprochenen unterbelichtet erscheint. Tück leuchtet die Widersprüchlichkeiten so weit aus, dass sie trotz aller logischen Schwierigkeiten zumindest in der spirituellen Wahrnehmung als „versöhnt“ erscheinen können. Die damit verbundenen Harmonisierungen im „Zusammenfall der Gegensätze“ überzeugen trotz der Dignität bedeutender theologischer Traditionen im Horizont einer evolutiven Werdewelt jedoch zusehends weniger. Tück bevorzugt eine dogmatische Lesart, welche die Theologiegeschichte im Sinne einer „Hermeneutik der Kontinuität“, also einer organischen Weiterentwicklung der Überlieferung, fortschreiben möchte, während etwa ein Hans Küng die klaren Brüche als Paradigmenwechsel identifizierte.
Doch auch Tück weist auf das Ungenügen etlicher einstiger Vorstellungen hin. So haben Theologen nach der frühen Kirchenväterzeit die mythologischen oder typologischen Betrachtungsweisen des Heilsgeschehens oftmals verworfen, zum Beispiel das Konstrukt einer Überlistung des Teufels durch Christus. Der Satan habe bei seiner Versuchung der menschlichen Natur Jesu dessen göttliche Natur „übersehen“ und sei daher des von Gott ursprünglich erlaubten Zugriffs auf den Menschen – ihn zu drangsalieren – „verlustig“ gegangen.
Manche Theologen-Aussagen produzierten eine schreckliche Wirkungsgeschichte, so der von Melito von Sardes erhobene Vorwurf des Gottesmords, der dem jüdischen Volk eine Kollektivschuld unterstellte. Das Kreuz als Kriegszeichen, unter anderem für die Kreuzzüge, hat wiederum einen anhaltenden Zusammenprall der Kulturen zwischen Christentum und Islam, Islam und Christentum in Gang gesetzt. Theologisches Befremden kommt hinzu. Tück erläutert, warum der Kreuzestod Jesu, des Gesandten Gottes, für den Islam eine Absurdität und Provokation ist, weil in der anderen Perspektive Gott in seiner Schönheit und Erhabenheit die reine Vollkommenheit und Allmacht darstellt, dem die Schmach des Kreuzes eklatant widerspricht. Hat Jesus gar nicht gelitten, ist gar ein anderer für ihn gestorben? Bis zum heutigen Tag wabern auch solche Vorstellungen eines Scheintods oder Scheinleibs durch so manche veröffentlichte wie unveröffentlichte Meinung.
Besonders berührend sind Tücks Passagen zu einer – heute leider vielfach verdrängten – Karsamstagstheologie, die weitaus massiver noch als die Karfreitagstheologie des „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ mit der Stummheit Gottes die Nacht der abgrundtiefen Verlassenheit spüren lässt, jenen eigenartigen „Schwebezustand“, der das Göttliche bis an den Rand des Nichts, ja mitten ins Nichts hineinführt, wo nichts mehr ist außer Nichts. Und wo doch wie bei einem – auch physikalisch-kosmologisch paradoxen – Urknall eine Neuschöpfung aus dem Nichts entsteht. Dieser Radikalität hat sich der Glaube auszusetzen, statt mit dem Österlichen das Extremste und Existentiellste zu beschönigen.
Tück wendet sich mit dem „Tod Gottes“ Nietzsche zu, der am Kreuz einen „Idioten“ identifiziert, jedoch in einer späten Lebensphase mit Anwandlungen einer seltsamen Einfühlsamkeit die kindliche Liebe und Wehrlosigkeit dessen bemerkt, der Hohn und Gewalt erträgt. Der Autor beschreibt die Erschütterung Dostojewskis vor Holbeins „Anti-Ikone“ des „toten Christus im Grabe“. Er meditiert die dunklen Gesichter-Ikonen des Alexej Jawlensky als „Suche nach dem abwesenden Gott“. Und er verweist auf Vorstellungen, wonach Christus am Kreuz „Sühne“ geleistet habe für die „Schuld Gottes“, der eine vom Leiden zerrissene Welt geschaffen hat.
Für die einst in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlichte Bildinterpretation der Kreuzigung des Barock-Künstlers Guido Reni durch den schiitischen Muslim Navid Kermani zeigt Tück dagegen kein Verständnis, vor allem wegen provokativer Formulierungen, dass es sich bei der Kreuzestheologie um „Gotteslästerung und Idolatrie“ handele. Der Theologe weist diese Äußerungen energisch zurück und erläutert in diesem Zusammenhang den grundlegenden Dissens zwischen Christentum und Islam. Dass Renis Gekreuzigter keine Wundmale aufweist und in ungebrochener körperlicher Schönheit dargestellt wird, hat Kermani zum Anlass genommen, seine Zurückweisung der Kreuzigung zu begründen. Andererseits verweist der muslimische Schriftsteller darauf, wie dieser „unversehrte“, doch wehrlose Jesus am Kreuz mit nach oben geöffneten, weit ausgebreiteten Armen den flehenden Blick himmelwärts richtet, als ob er eine Antwort auf seine offene Frage erwarte: Warum am Kreuz? Ist es ein Mitleid erheischender Ausdruck rebellischen Aufbegehrens, des Zweifelns gar, ja Verzweifelns? Tück bemerkt da, anders als Kermani es nahelegt, „keine Spur eines Aufbegehrens gegen den himmlischen Vater“, vielmehr einzig eine „Vorwegnahme des österlichen Triumphes über die Macht des Todes“.
Der Rezensent hingegen gesteht, von Kermanis Deutung von Anfang an sehr berührt, ergriffen gewesen zu sein. Denn auf besondere Weise ist in Renis Bild die ewige Provokation des Passionsgeschehens festgehalten, der wehrlose Menschensohn als wehrloser Gottessohn zwischen zweifelndem Unverständnis und ungläubig-gläubigem Staunen. Es ist in der Sprache des Malers ein theologischer Versuch, das Unaussprechliche in Sprache zu bringen, wie anders denn als paradox: Wie das Konzil von Chalcedon über den einziggeborenen Sohn und Herrn formulierte, „der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird“. Um es mit der Vorsilbe „un-“ zu ergänzen: „unlösbar“ als „Geheimnis des Glaubens“ auch nach den Anstrengungen einer gut zweitausendjährigen Theologie- und Christentumsgeschichte. Welche Sprache wäre für heute angemessen? Wie wäre die Glaubenssprache fortzuschreiben in einem Zeitalter radikaler Entmythologisierung und Gottentzogenheit, das die grundlegende Sehnsucht nach Erlösung und die große Frage des Woher und Wohin keineswegs vergessen und noch nicht preisgegeben hat? Am allerwenigsten die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Es braucht bei aller Offenbarungs-Überlieferung eine entschieden neue Sprache für das Mysterium Gott, für die Crux mit Gott. Gott hängt am Kreuz. Gott – Zeige deine Wunde!
Tücks vielschichtige, assoziationsreiche und historisch gesättigte Passions- und Kreuzesmeditation wird dann zur Gottesmeditation. Im Horizont der Welterfahrung geht das nicht ohne persönliche kritische Glaubensauseinandersetzung mit Selbstreflexion. Daran kann und darf sich auch eine religiös selbstgenügsam und gesellschaftlich-politisch harmlos gewordene Kirche nicht vorbeischleichen. Das Kreuz Jesu Christi bleibt kulturell anstößig und ärgerniserregend: wider die Diesseitsvertröstung, wider die Wohlstands-Wellnessreligion als Opium des Volkes, aber auch wider eine Streichelzoo-Religiosität, die das Anstößige, Paradoxe, Befremdliche des Christlichen, ja Gottes selbst bannen möchte. Im Kreuz ist Heil. Auferstehung.
JAN-HEINER TÜCK
CRUX
Über die Anstößigkeit des Kreuzes
Verlag Herder, Freiburg 2023, 376 Seiten, 28 €