Dass der Homo sapiens ein erzählendes Wesen ist, gehört für Liane Dirks zu den zentralen anthropologischen Einsichten. Daraus hat die Schriftstellerin einen bemerkenswerten Ansatz entwickelt, der dabei helfen kann, unter den Ablagerungen psychischer Altlasten verborgene „Schätze und Chancen“ von Biografien freizulegen. Zu erkennen, was einzelne Personen in ihrer Essenz ausmacht, nämlich dass wir mitfühlende, kreative, auf seelisches Wachstum angelegte Wesen sind, darum geht es der Beraterin. In Biografie-Seminaren hat sie Hunderte von Menschen begleitet, die erzählend und schreibend dabei waren, dem Sinn ihrer Existenz auf die Spur zu kommen.
Verletzungen sind ein wesentlicher Teil des Menschseins. Wunden machen wirkliche Empathie überhaupt erst möglich.
„Die heilige Wunde – wir haben sie vermutlich auf die ein oder andere Weise wohl alle. Sie ist ein Menschenschicksal. Und weil das so ist, wird sie in abgewandelter Form auch immer wieder erzählt, in den Religionen und Mythen, in den großen Erzählungen dieser Welt, in allen Kulturen. Wir bringen sie mit, eine Anlage, die wir geerbt haben, eine Krankheit, ein körperlicher Defekt, wir gebären uns in sie hinein, die lieblose Mutter, der immer abwesende Vater, Missbrauch, Armut, Ausgrenzung, die Beispiele sind zahllos.“ Genau an diesem Punkt setzt die Autorin an. Sie ist überzeugt, dass Verletzungen wesentlicher Teil des Menschseins sind und dass solche Wunden wirkliche Empathie überhaupt erst möglich machen. „In meiner Seminararbeit erlebe ich das immer wieder. Jemand liest einen Text vor über all das Schwierige, das er in der Kindheit erlebt hat, und dann setzt eine Stille ein … Ein stiller, ein kostbarer, ein heiliger, ein großer Moment.“
Chancen der eigenen Biografie zu erkennen, setzt für die Verfasserin nicht zuletzt Sensibilität und Hellhörigkeit für Signale voraus, mit denen „unser Leib“ zu uns spricht. „Wir können uns mit unserem Verstand belügen … unser Körper aber verrät uns fast alles … schon vor hundert Jahren hat der Psychiater Sándor Ferenczi vom Schmerzkörper gesprochen.“ Anlass, sich intensiver mit der eigenen Lebensgeschichte zu beschäftigen, sei oft die Tatsache, „dass wir den Sinn unseres Lebens gerade verloren haben oder dass ein existentieller Wendepunkt erreicht worden ist.“
Liane Dirks berichtet von ihrer Begegnung mit einer „großen Dichterin“, die wegen ihrer jüdischen Wurzeln aus Deutschland vertrieben wurde, schließlich aber für viele zu einem „Leitstern“ avancierte. Die Rede ist von der Schriftstellerin Hilde Domin: Nach dem Verlust der Heimat stürzte sie der Tod ihrer Mutter in eine tiefe Lebenskrise. Plötzlich entdeckte sie jedoch, dass ihr das Schreiben von Gedichten dabei half, sich auf neue Weise im Leben zu verwurzeln: durch die Sprache. Von da an führte die Lyrikerin den „Berufungsnamen“ Domin: „Ich nannte mich/ich selber rief mich/mit dem Namen einer Insel/gerade als ich an Land ging“.