In Albert Camus’ Roman Die Pest kommt es angesichts des massenhaften Sterbens und hilflosen Dagegen-Ankämpfens zu einem denkwürdigen Dialog zwischen Pater Paneloux und dem Arzt Rieux. Eben habe er erkannt, was Gnade heißt, sagt der Geistliche, worauf ihm der Mediziner nüchtern antwortet: „Ich will nicht mit Ihnen darüber streiten. Wir arbeiten für etwas, das uns jenseits von Lästerung und Gebet vereint. Das allein ist wichtig.“
Es sind solche Sätze, ja Aphorismen, mit denen Camus immer wieder religiös denkende Menschen herausfordert: zum Beispiel darüber nachzudenken, ob sie auch wirklich glauben, was sie beten. Die Frage gehört zum Kernbestand der ja gerade im Evangelium selbst thematisierten Glaubenszweifel. „Glaubst du das?“, fragt Jesus Marta in der Geschichte von der Erweckung des Lazarus. Und schnell – vielleicht ein wenig zu schnell – antwortet Marta: „Ja Herr, ich glaube, dass du der Christus bist.“
Wenn Religion nicht im Ritus erstarren soll, ist das Reflektieren dessen, was in und durch religiöse Sprache geschieht, unabdingbar. Und deshalb muss ein Buch, welches das zentrale Gebet der Christen – das Vaterunser – unter der Frage überdenkt, ob wir denn auch glauben, was wir beten, gerade denjenigen interessieren, der sich vor der Formelhaftigkeit des Betens scheut. „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden“, trägt Jesus seinen Jüngern auf (Mt 6,7). Das geplapperte Gebet ist in der Tat eine Art Lästerung – letztlich messen dann rituelle Formeln der Sprache magische Kraft zu, mit der es die Wirklichkeit zu bezwingen gelte.
All dies ist der Publizistin und Juristin Beatrice von Weizsäcker wohl bewusst, die jüngst das Buch Vaterunser. Gebet meiner Sehnsucht veröffentlicht hat. Darin geht sie ausführlich auf die einzelnen Sätze dieses Gebets ein, das ja in der Tat nicht frei von Absonderlichkeiten ist – erinnert sei hier nur an die von Papst Franziskus vor einigen Jahren angestoßene Debatte über den Gott, von dem angenommen wird, dass er die Menschen „in Versuchung führen“ könne. Und natürlich kann man auch an den Imperativen Anstoß nehmen („gib“, „vergib“, „erlöse“), die sich doch eher weniger mit der Haltung eines betenden Menschen vereinbaren lassen. Auch Joseph Ratzinger hat sich seinerzeit im ersten Band seines Jesus-Buchs intensiv mit dem Vaterunser auseinandergesetzt und Begriff für Begriff, Satz für Satz einer sprachlichen und exegetischen Prüfung unterzogen – bisweilen mit zweifelhaften Einsprengseln, etwa wenn er bei der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen die „Zersetzung der sittlichen Ordnung“ beklagte.
Von solchen Spiegelfechtereien ist Beatrice von Weizsäckers Auslegung des Vaterunser frei, nicht jedoch von anderen überraschenden Gedanken. Ihr Umgang mit dem Text ist kreativ – um es vorsichtig auszudrücken. Sehr dezidierte Aussagen beispielsweise über das Gendern, über die Hierarchie in der Kirche oder über das Verhältnis der Astrophysik zum Glauben wechseln mit subjektiven, bisweilen fast schon esoterischen Mitteilungen ab. „Und auf einmal sah ich, dass Nebel rückwärts Leben heißt“, schreibt die Autorin gegen Ende des Buchs. An anderer Stelle fällt ihr auf, dass das Wort tot zwei Kreuze habe und in der Mitte einen Kreis als „Zeichen der Vollkommenheit“.
Es gibt in diesem Buch mehrere solcher Passagen, bei denen man sich einen eher nüchternen Blick auf das Thema, auf die Welt und die Menschen gewünscht hätte. Aber mit zunehmender Lektüre wird dem Leser klar, dass Beatrice von Weizsäcker ja womöglich gar nicht die Absicht hat zu argumentieren. Es geht ihr offensichtlich um die Versprachlichung einer Art Erweckung, bei der das Vaterunser gewissermaßen als Folie einer Selbsterfahrung dient. Wie häufig fällt das Wort ich! Und wie bezeichnend ist vor diesem Hintergrund der oftmalige Kapitelschluss „Und so bete ich“. Dass bisweilen eine theologische oder religionswissenschaftliche Reflexion wenn schon nicht zu Klarheit und Erkenntnis, so doch zu Orientierung führen könnte, weist die Autorin nicht ohne eine gewisse Koketterie von sich: „Theologen können das sicher erklären. Ich bin aber keine Theologin und darum auf die Worte Jesu angewiesen.“
Gerade bei einer so zentralen Frage wie der Theodizee, über welche die Autorin vor dem Hintergrund der Ermordung ihres Bruders im Herbst 2019 spricht, wäre doch theologische Reflexion sehr hilfreich – beispielsweise in Anlehnung an das, was der Freiburger Theologe Magnus Striet zur Allmacht Gottes sagt. Auch hier gerät das von Beatrice von Weizsäcker eindrucksvoll eröffnete Panorama letztlich zu einer Ich-Perspektive („Niemals hätte ich angesichts eines solchen Verbrechens gebetet, ‚dein Wille geschehe‘. Und doch tat ich es. Ich tat es für mich. Ich tat es wegen Jesus.“).
Am Ende der Lektüre dieses sehr ehrlichen, sehr persönlichen Buchs wird mancher Leser vielleicht etwas ratlos zurückbleiben – wie vor jedem Bekenntnis, das man entweder bewundernd anerkennt oder schulterzuckend zur Kenntnis nimmt. Beatrice von Weizsäcker hat weniger ein Buch zum Verstehen und zur Auseinandersetzung mit kontroversen Gedanken geschrieben. Die Lesemotive, die hier vor allem bedient werden, heißen „Entdecken“ und „Eintauchen“.